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Kultur: Ein Haus für die Kulturnation

Der Neubau der Deutschen Bibliothek ist eröffnetVON BERNHARD SCHULZ FRANKFURT (MAIN).Der Ausblick aus dem Obergeschoß auf eine vielbefahrene Straßenkreuzung, links ein Autohändler, rechts ein Pizza-Dienst, stimmt melancholisch.

Der Neubau der Deutschen Bibliothek ist eröffnetVON BERNHARD SCHULZ FRANKFURT (MAIN).Der Ausblick aus dem Obergeschoß auf eine vielbefahrene Straßenkreuzung, links ein Autohändler, rechts ein Pizza-Dienst, stimmt melancholisch.Die mäandrierenden Backsteinmauern im Vordergrund gehören zu dem Kunst-am-Bau-Werk, mit dem Per Kirkeby den offenen Vorplatz des Neubaus der Deutschen Bibliothek gleich wieder hat abriegeln dürfen.Der dänische Meister zweckfreier Backsteingebilde reagiert damit auf die unmögliche Lage eines Baus, der doch wie kaum ein zweiter geeignet wäre, die Kulturnation zu verkörpern.Denn die Deutsche Bibliothek sammelt qua Auftrag die gesamte Buchproduktion nicht nur aus deutschen Landen, sondern deutscher Sprache überhaupt. Zu einer Nationalbibliothek nach dem Vorbild Frankreichs hat es nicht gereicht.Das muß kein Mangel sein; umso weniger, als die elektronische Revolution die Bedeutung einer Sammlungsstätte bedruckten Papiers relativiert.Was aber als Mangel an der Lage des Frankfurter Neubaus sichtbar wird, ist das hierzulande gering entwickelte Bewußtsein, öffentliche Bauten als Verkörperung kulturellen Selbstverständnisses zu verstehen.In der Mainmetropole besetzen Bankneubauten die besten Grundstücke.Für die Deutsche Bibliothek blieb eine Restfläche am zerfransenden Rand der Innenstadt. Das Gebäude hätte eine weit bessere Lage verdient gehabt; seiner Zweckbestimmung nach, aber auch wegen seiner durchdachten Architektur.Nach mehreren Monaten der praktischen Erprobung wurde der 251 Millionen DM teure Neubau am gestrigen Mittwoch feierlich eingeweiht, exakt ein halbes Jahrhundert nach Gründung der durch die deutsche Teilung notwendig gewordenen Institution in Frankfurt am Main.Daß der Bundeskanzler die Festansprache halten wollte, durfte man als kulturpolitisches Signal werten.Doch Helmut Kohl blieb allgemein.Zwar vergaß er nicht, ausführlich auf die Geschichte der deutschen Teilung einzugehen."Im zerstörten Nachkriegsdeutschland war die Gründung der Deutschen Bibliothek ein weithin sichtbares Zeichen für den Fortbestand der deutschen Kulturnation", so der Kanzler: "Immer waren Bibliotheken Kristallisationspunkte nationaler Identität." Doch ein Wort zum Thema Beutekunst blieb aus, obgleich doch die Bibliotheken auf die Rückkehr von unzähligen Büchern warten, und die Frage, was der selbsternannten Nationalbibliothek in Frankfurt zu einer solchen fehlt und wie diese Leerstelle im kulturföderalistischen Deutschland zu schließen sei, schnitt der Kanzler so wenig an wie sonst ein Festredner. Das Wort "Kulturnation" nimmt der Generaldirektor der Deutschen Bibliothek, Klaus-Dieter Lehmann, nicht einmal dann in den Mund, wenn es ihm gesprächsweise angeboten wird.Er redet statt dessen deskriptiv vom "deutschen Sprachraum".Seine Bibliothek ist kein kulturelles Manifest, sondern eine Serviceeinrichtung."Die Deutsche Bibliothek ist gleichermaßen der Buchkultur und der modernen Kommunikation verpflichtet", heißt es in der Broschüre des Hauses: Nicht Repräsentation, sondern Zugänglichkeit, nicht Bibliophilie, sondern Sachlichkeit, nicht Hoheits- sondern Servicefunktionen stehen im Vordergrund." Dem nüchternen Selbstverständnis entspricht die Architektur.Die Stuttgarter Architekten Mete Arat sowie Hans-Dieter und Gisela Kaiser bauen bundesdeutsch im besten Sinne.Das ist nicht die auftrumpfende Geste, mit der Dominique Perrault den Neubau der Pariser Bibliothèque nationale als Symbol des Buches schlechthin gestaltet hat.Das Stuttgarter Büro spielt statt dessen ein erprobtes Vokabular von Transparenz, Offenheit, Vielfalt und freundlich dargebotener Funktionalität durch, mit dem hierzulande Schwellenangst genommen werden soll. Das Herz des Neubaus aber ist nicht am Gebäudeäußeren zu erkennen: die drei unterirdischen Speichergeschosse.Sie zeugen vom Optimismus hinsichtlich der Zukunft des Buches, den der Generaldirektor verbreitet.In einer "Zeit der Flüchtigkeit, Gleichzeitigkeit und Unübersichtlichkeit" - so Lehmann - vermittle "das Buch Beständigkeit, Öffentlichkeit und individuelle Auswahl".Sieben Millionen "Medieneinheiten" sind in einem halben Jahrhundert angesammelt worden, 18 Millionen finden in dem Kellermagazin Platz.Das reicht voraussichtlich bis 2035.Immerhin kommen täglich 1000 Titel ins Haus.Für die Bibliotheksbenutzer zugänglich ist nur die Spitze des Eisbergs.Lediglich 17 000 der 47 000 Quadratmeter Hauptnutzfläche ragen aus dem Untergrund heraus.Hinter der Backsteinbarriere tut sich ein verglaster Eingangsbereich auf, der in eine glasgdeckte Rotunde führt.Sie bildet das Bindeglied zwischen den beiden gegeneinander im spitzen Winkel versetzten Baukörpern.Der linke birgt die Funktionsräume von Verwaltung und Buchbearbeitung, der rechte die Lesesäle, die sich auf einen lärmgeschützten Gartenhof öffnen.Unterschiedliche Ebenen, umlaufende Galerien und vielfältige Treppen formen das Bild einer "Leselandschaft", wie sie seit Hans Scharouns Berliner Staatsbibliothek gern als Ausdruck der nicht-hierarchischen universitas litterarum verstanden wird.Ein Drittel der 300 Leseplätze ist mit Terminals ausgestattet, Tendenz steigend.Wie um diese Zukunft noch einmal mit der glanzvollen Vergangenheit des Buches als Kunstwerk zu konfrontieren, hat die gleichfalls in den Neubau übersiedelte "Stiftung Buchkunst" im - natürlich voll verglasten - Ausstellungszentrum an der verkehrsumlärmten Gebäudeecke die Ausstellung "Typen und Macher.300 schöne Bücher aus der Sammlung der Deutschen Bibliothek und der Stiftung Buchkunst" ausgerichtet.Einträchtig liegen in den Vitrinen Bücher aus Bundesrepublik und DDR nebeneinander. Gemeinsamkeit indessen hat Grenzen.Linda Reisch, die von nimmer endenden Etatkürzungen gebeutelte Frankfurter Kulturdezernentin, rühmt im Gespräch die Fixigkeit des Generaldirektors, der die Vereinigung mit dem Schwester- und Vorgängerinstitut der Deutschen Bücherei Leipzig vom Fall der Mauer an auf dem Weg gebracht und gleichzeitig den Neubau in Frankfurt am Main vorangetrieben habe: "Drei, vier Jahre später und der Neubau wäre nicht mehr möglich gewesen." Nun gehören Leipzig und Frankfurt institutionell zusammen.In Leipzig wird das Erbe gepflegt, die Buchkultur und die von Säure bedrohten Druckwerke, in Frankfurt wird die Zukunft von Buch und Computer gewagt.Die Zufälligkeit, aufgrund derer die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main beheimatet ist und bleibt, spiegelt eben auch die Wechselfälle der deutschen Geschichte.

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