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Diederichsen

© Mike Wolff

Ein Interview mit DD: "Der Klingelton, das ist die Liebe zum Zwang"

Die Musikindustrie löst sich auf und bei MTV wird wieder geweint: Gespräch mit dem Pop-Guru Diedrich Diederichsen.

Herr Diederichsen, Bertelsmann hat sich gerade vollkommen aus der Musikbranche zurückgezogen, die EMI kündigt die Entlassung von 2000 Mitarbeitern an. Die Musikindustrie, wie wir sie bisher kannten, löst sich auf. Ein Grund zur Trauer?

Der Musikindustrie selber, ihren Institutionen, Usancen und Managern, muss man nicht nachtrauern. Aber ihr Verschwinden ist das Symptom einer Entwicklung, über die man sich Sorgen machen sollte: das Verschwinden einer objektbezogenen Musik, aber auch der entgegengesetzten Utopien aus den digitalen Neunzigern. Die Vorstellung, dass sich in der Netzkultur eine Art globale Indie-Kultur entwickeln würde, in der idyllische Nischenkultur dominieren würde, ist genauso am Ende wie zuvor die Album-zentrierte Rock-Kultur.

Was tritt an die Stelle der nun zusammenbrechenden Musikindustrie?

Es kommt zu zwei Fluchtbewegungen. Es gibt zum einen die erzwungene Flucht in die Performance. Geld verdienen lässt sich für Musiker nur noch mit Auftritten. Eine Kunst wird in ihr Gladiatorenstadium zurückgedrängt. Abgesehen von einigen Superstars heißt auf Tour zu sein, auf Tagelöhnerbasis zu arbeiten. Wohin das führt, hat man bis in die fünfziger Jahre im Jazz gesehen. Die Leute haben das nur als Junkies ausgehalten. Der andere Punkt ist die Flucht in den Fetisch. Viele Künstler versuchen, Musikobjekte neu zu definieren, durchaus in Orientierung an Galeriekunst. Soundausstellungen erleben gerade einen Boom. Und das Editionswesen blüht, es gibt immer aufwendigere Kombinationen von Tonträgern und Buchobjekten, die Vinylplatte feiert ein Comeback.

Beide Bewegungen sind rückwärtsgewandt, oder?

Nicht komplett. Beides ist aus der Not geboren, eine kapitalistische Entwicklung, die Zwängen folgt, keine künstlerische.

Wenn etwas verschwindet, darf man sentimental werden, schreibt Benjamin im „Passagenwerk“. Er meinte damit die Gaslaternen, die im späten 19. Jahrhundert aus dem Straßenbild verschwanden. Soll man sentimental werden, weil der alte Pop abtritt?

Was einen sentimental machen kann, ist nicht unbedingt die Erinnerung an die Musikindustrie, aber die Erinnerung an die kulturellen Formate, die von dieser Industrie hervorgebracht wurden, die je auf ihre Weise visuelle, filmische, grafische, theatrale und musikalische Elemente synthetisieren konnten.

Sie meinen das Album, das im Zeitalter des Song-Downloads auf die Liste der bedrohten Arten gehört?

Es ist viel mehr. Angefangen von der in den Fünfzigern aufkommenden Seven- Inch-Single mit ihren besonderen visuellen Reizen über die LP bis zur CD. Über ein halbes Jahrhundert lang hat über diese Objekte ein wesentlicher Teil der Selbstverständigung der westlichen Welt stattgefunden.

Ist der Klingelton kein neues Format?

Der Klingelton geht noch einen Schritt weiter weg von der alten Lockerheit, sich über Popmusik zu verständigen. Es geht mehr um ein falsches Identischwerden mit seinen Präferenzen. Die klassischen Formate gingen noch von der Souveränität der Pop-Rezipienten aus. Die Person, die bestimmte Musik hörte, sich auf eine bestimmte Weise anzog und bestimmte politische Ansichten pflegte, gerierte sich dabei immer als jemand, der auch anders könnte, jetzt aber gute Gründe hatte, es so zu machen. Im Gegensatz zu Leuten, die in etwas hineingeboren sind. Der Klingelton demonstriert Liebe zum Zwang, er ist eine zwanghafte Selbstvergewisserung, so wie die Tätowierung.

In ihrem neuen Buch „Eigenblutdoping“ konstatieren Sie lauter Verluste: Früher stand Pop für Zusammenschluss, der Klingelton markiert die steigende Individualisierung und Isolierung. Warum sind Sie so kulturpessimistisch?

Zum Kulturpessimismus neige ich noch nicht. Wenn etwas stürzt, ergibt das ja auch immer einen Moment von Gerechtigkeit. Es stürzt ja nichts nur zu Unrecht, und man kann sich im Einvernehmen mit einem spezifischen Untergang auch aktiv Geschichte aneignen, sozusagen die positiven Schlüsse ziehen.

Pop war der Gegenentwurf zur Hochkultur, der Independent-Pop verstand sich lange als Nische des Unangepasstseins. Kann man heute noch an Pop glauben?

Dass Pop ein Gegenentwurf zum Ganzen sein könnte, daran kann man schon seit ungefähr 20 Jahren nicht mehr glauben. Aber die umgekehrte Diagnose, dass es sich bei Pop um ein ganz besonders perfides Mittel der Unterwerfung handeln müsse, ist genauso falsch. Viele Elemente der kulturellen Ordnung Pop haben sich weitgehend durchgesetzt. Zum Beispiel die Grundsatzfrage, die immer an Werke der Pop-Musik gestellt wird: Was ist das eigentlich für ein Typ, der das gerade spielt, wie sieht der aus, was will der? Diese Frage wird inzwischen an alle Kulturereignisse gestellt.

Sie meinen den Starkult?

Nicht nur. In den High Arts und den Low Arts hat sich eine unglaubliche Personenbezogenheit von kulturellen Produkten durchgesetzt. Wobei die Personen nicht ausschließlich als Quelle der Kunst gesehen werden. Das ist eine Mischung aus Verehrung und Voyeurismus. Ein Sichvertrautmachen, das mit einem ständigen Fällen von Urteilen einhergeht, ist mittlerweile der Kern des kulturellen Genusses. Diese Entwicklung begann in der Pop-Musik der fünfziger und sechziger Jahre als Antwort auf den noch monolithischen Starkult à la Hollywood.

Kann man diagnostizieren: Nie war PopMusik so allgegenwärtig und gleichzeitig so bedeutungslos wie heute?

Es gibt die Tendenz zur Entropie. Etwas, was überall auf gleiche Weise verteilt ist, fällt einem nicht mehr auf, hat keine Bedeutung mehr. Wenn bei einem klassischen Konzert eine Komposition interpretiert wird, die schon eine Milliarde Mal zuvor interpretiert wurde, ist es selbstverständlich, dass man die Komposition kennen muss und der Kunstgenuss etwas zu tun hat mit dem abstrakten Substrat aller dieser Interpretationen und dem, was da gerade jetzt gemacht wird. Das ist eine völlig andere Lokalisierung des Wichtigen als bei all diesen Musiken, die man im Alltag hört, zu denen man sich verhält, die man aber nicht bei sich behält. Ich glaube, dass alles, was aus Popmusik heraus entstanden ist, überhaupt nur überleben konnte, indem es dazu andere Vorschläge machte, zum Verhältnis von wichtig und unwichtig, Hauptsache und Nebensache. Einer dieser Vorschläge von Popmusik lautet: Um die Musik geht es gerade gar nicht.

Pop ist ein Medium der Euphorie. Im Buch wenden Sie sich gegen zu viel Euphorie und fordern mehr Kritik. Warum?

Ich habe nichts gegen Euphorie an sich. Heute muss aber immer gesagt werden, dass die Stimmung gut ist. Obwohl die Stimmung eigentlich gar nicht gut ist. Der klassische Kapitalismus definierte die Menschen stark über körperliche Arbeit, der Geist war eine unterdrückte Energie. Schon Marx schwärmte vom freien Spiel der Muskeln, die zum menschlichen Körper gehören, aber in der Fabrikarbeit nicht zum Zuge kommen können. In dieser Situation war Euphorie ein Mittel, die anderen Kräfte zu wecken, das Seelische zu mobilisieren und mit dem Körper in Verbindung zu bringen. Dann sang der Plantagenarbeiter Gospel. Heute ist das Spirituelle die zentrale Ressource der Arbeit, die der Arbeitnehmer ständig optimieren muss. Das schlummernde Selbst, das früher erst befreit werden musste, muss heute schon den ganzen Tag arbeiten.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie heute Eigenschaften wie „Kreativität“, „Lebendigkeit“ oder „Sexyness“ vermarktet werden. Sie nennen das „Eigenblutdoping“.

Entscheidend ist, dass diese Eigenschaften Dinge sind, zu denen die einzelnen Subjekte keine Distanz haben. Etwas, über das sie nicht als erlernte Kompetenz verfügen. Sondern es erscheint ihnen, und so ist das auch erwünscht, als primäre Eigenschaft ihrer Person. Deshalb findet man heute oft Selbstbeschreibungen, in denen Leute offensiv ihre „Fehler“ ausstellen.

Ist es deshalb im Pop gerade wieder so beliebt, das „Authentische“ zu betonen?

Das war ja, in einer Zeit, als man nicht authentisch sein konnte, ein zentrales Motiv der Pop-Musik: Dass jemand nicht in einer Rolle, sondern als er selbst auftrat. Die Rock-Ästhetik trug diese Entwicklung. Aber Pop-Musik hat schon in den Siebzigern, Achtzigen die eigene Authentizitätsforderung als Problem erkannt: Als sich abzeichnete, dass eine Zeit kommen könnte, in der Authentizität normativ werden würde, auf der Bühne wie auch am Arbeitsplatz. David Bowie und die frühe Madonna sind nur die prominentesten Beispiele, in der Punkzeit gab es immer wieder Bezugnahmen auf die Künstlichkeit der Authentizität und umgekehrt. Jetzt ist man im Indierock wieder da angelangt, wo es gut ist – wie ich heute auf MTV gesehen habe –, wenn die Performer weinen.

Gehen Sie noch zu Konzerten?

Ein oder zwei Mal im Monat. Nicht mehr jeden Tag, wie ich es bis Mitte der neunziger Jahre gemacht habe. Das Abschreckende ist die Art und Weise, wie Konzerte organisiert sind. Jeder Getränkestand, jede Dekoration des Grauens sagt einem: Du musst die Musik schon sehr gut finden, um immer noch hier zu sein.


Das Gespräch führte Christian Schröder.

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