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Ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe: Japanisch Roulette

Zwei Berliner Künstler haben vier Monate lang die Folgen des Atomunglücks von Fukushima untersucht, das Land mit ihrer Kamera durchstreift, mit Menschen auf der Straße gesprochen. Dabei fanden sie Hoffnung aber auch viel Unsicherheit. Ein Reisebericht.

Viereinhalb Monate sind wir ganz nah dran an der Apokalypse, die sich fast unsichtbar abspielt. Als wir im September 2011 nach Japan kommen, sind gerade sechs Monate seit der Katastrophe vergangen. Die Menschen haben sich vom ersten Schock erholt, viele haben sich den Sommer über in Hilfsprojekten und Benefizveranstaltungen engagiert. Danach setzte die Zeit der ersten großen Reflexion ein. Viele sind unzufrieden mit der aktuellen Situation.

Was hätten wir gemacht, wenn 250 Kilometer von Berlin entfernt ein Atomkraftwerk in die Luft fliegt? Für unser Filmprojekt haben wir an verschiedenen Orten in Japan Menschen befragt, wie sich ihr Leben nach dem 11. März verändert hat. Welche Auswirkungen hat die Katastrophe auf jeden Einzelnen – und auf die Gesellschaft? Wie geht man mit der Strahlung um? Ist die Gefahr real oder nur eine vage, undefinierbare Verunsicherung?

„Was im Norden Japans gerade geschieht, ist ein Massaker in Zeitlupe“, so beschreibt der aus Fukushima stammende, jetzt in Tokio lebende Musiker Otomo die Situation. Erhöhte Strahlung, die weit über dem Grenzwert liegt, wird auch außerhalb der Sperrzone mit einem Radius von 20 Kilometern gemessen, zum Beispiel in der sechzig Kilometer vom havarierten Kraftwerk entfernten Stadt Fukushima mit 300 000 Einwohnern. Die japanische Regierung verkündet unentwegt: „Fukushima genki, Fukushima daijobu.“ Fukushima geht es gut, Fukushima ist okay.

Je kleiner die Sperrzone von der Regierung definiert wird, desto weniger Entschädigungszahlungen müssen geleistet werden. Und die Bürger bleiben laut offiziellen Zahlen auch brav in den verstrahlten Gebieten. Nur vier Prozent sind geflohen. Dabei werden nur diejenigen erfasst, die auch ihren amtlichen Wohnsitz ändern. Tatsächlich verlassen weitaus mehr Bewohner die Region auf eigene Faust und ohne staatliche Unterstützung, meist Frauen mit Kindern.

Ein Vorort in Kyoto, Fünfziger- Jahre-Sozialbauten, ein sprödes Wohnviertel mit nordkoreanisch anmutendem Charme. Letztes Jahr standen die Wohnblocks noch leer, sie sollten abgerissen werden. Jetzt wohnen dort rund 800 Mütter mit ihren Kindern, die aus Fukushima geflohen sind. Die Männer sind geblieben, aus Angst, anderswo keine Arbeit zu finden. Die Wohnungen wurden von der Stadt für zwei Jahre kostenlos zur Verfügung gestellt.

Die meisten Mütter sind Hausfrauen und auf das monatliche Geld der Ehemänner angewiesen. Diese haben oft nur widerwillig zugestimmt, dass ihre Familien die Region verlassen, auch bei Verwandten und Freunden stießen sie auf wenig Verständnis. Die Entscheidung wird oft als nervöse Überreaktion aufgefasst. „Wenn ihr jetzt geht, braucht ihr nicht mehr wiederzukommen,“ hieß es oft.

Wie lange sie in Kyoto bleiben, wissen sie noch nicht. Einige wollen in einem oder zwei Jahren zurückkehren. Wenn die Strahlung nachgelassen hat, sagen sie. Von den langen Halbwertszeiten haben die wenigsten hier etwas gehört.

Sechzig Kilometer südlich von Kyoto, 500 Kilometer Luftlinie zur Reaktorruine von Fukushima, liegt ein atemberaubend schöner Küstenstreifen am Japanischen Meer, mit der weltweit größten Ballung von Kernkraftwerken. 14 der 54 Reaktoren Japans finden sich hier in der Präfektur Fukui, deren Bewohner laut Statistik als die glücklichsten Menschen von Japan gelten. Ihren hohen Lebensstandard verdanken sie staatlicher Unterstützung – und reichhaltigen Infrastrukturmaßnahmen aufgrund der Atomanlagen.

In entspannter Stimmung am Strand treffen wir dort auf unbekümmerte Surfer, die die Herbstwellen vor dem Atomkraftwerk Mihama abreiten, und Angler, die dicke Fische aus dem Meer ziehen, direkt vor dem schnellen Brüter Monju.

Tokio, Shibuya, ein belebtes Einkaufsviertel: Schüler, Studenten, Rentner und ein Flüchtling aus Fukushima versuchen, Stimmen für ein Referendum gegen Atomkraft zu sammeln, aber kaum einer der Passanten interessiert sich dafür. Die Regierung erklärte im Dezember offiziell das Ende der Katastrophe; der Reaktor in Fukushima sei unter Kontrolle, die Stromsparmaßnahmen könnten eingestellt werden. In Tokio wohnen viele unserer japanischen Freunde, sie wollen mit uns feiern: dass das Erdbeben überstanden ist, dass das Haus noch steht und wir uns endlich wiedersehen.

Zwei unserer Freunde haben kurz nach dem Erdbeben ihr erstes Kind bekommen. Zwar hat die Katastrophe sie beunruhigt, auch die erhöhte Strahlung in der Nachbarschaft von 0,29 Mikrosievert, aber sie gehen unterschiedlich damit um. In Berlin liegt die natürliche Hintergrundstrahlung bei 0,08 Mikrosievert. Während der Familienvater, der von Beruf Tänzer ist, einen Geigerzähler kaufte und sich große Sorgen macht, legt seine Frau Zweckoptimismus an den Tag. „Ist das nicht verrückt, wir benutzen jetzt jeden Tag einen Geigerzähler! Die Kinder wachsen mit diesem Ding auf!“, so die Tänzerin. Beide wollen auf jeden Fall in Tokio bleiben, haben sich eingerichtet wie so viele. „Wir Japaner,“ sagt unsere Freundin, „sind total an die Scholle gebunden. Wir können nicht weg.“

Wie andere Eltern bestellen sie ihre Lebensmittel jetzt bei einer Kooperative, die alles auf Strahlung misst und maximal 10 Becquerel pro Kilogramm garantiert. Der japanische Grenzwert liegt bei 500 Becquerel. Das Münchener Umweltinstitut empfiehlt maximal 30 bis 50 Becquerel für Erwachsene, für Kinder nicht mehr als fünf Becquerel.

In den Supermärkten, erzählt unsere Freundin, werden überall auch Nahrungsmittel mit erhöhten Cäsiumwerten aus der betroffenen Tohuko-Region verkauft, zu der Fukushima und die Nachbarpräfekturen gehören. Eine Kennzeichnung, ob diese auf Strahlung kontrolliert wurden, gibt es nicht. Daher verzichten viele Kunden ganz auf Produkte aus dieser Region. Am sichersten scheint es, Milchprodukte, Fleisch und Gemüse nur noch aus dem Süden zu kaufen und vorfabrizierte Nahrung möglichst zu meiden. Der Rest bleibt ein Roulette-Spiel, Restaurantbesuche eingeschlossen. So entwickelt jeder seine eigene Philosophie.

Denn die Verunsicherung ist groß, die unsichtbare Gefahr schwer einzuschätzen. Eine Möglichkeit besteht darin, sie einfach zu ignorieren, daran halten sich viele. Zwar kamen in Tokio die für ein Referendum zum Atomausstieg benötigten 220 000 Stimmen knapp zusammen. Aber das ist fast nichts angesichts von 18 Millionen Bewohnern der Stadt. Und ob es überhaupt zum Referendum kommt, hängt auch noch vom Votum des Bürgermeisters Ishihara Shintaro ab, der im letzten April – nach der Katastrophe! – wiedergewählt wurde, obwohl er Atomkraftbefürworter ist. Die große Mehrheit der Tokioter hält Atomenergie im Prinzip für sicher, ihr ist nach wie vor am vermeintlich günstigeren Atomstrom gelegen.

Selbst in Kyoto, einer Stadt mit hohem Bildungsbürgeranteil und zahlreichen Universitäten, haben die Wähler den amtierenden Bürgermeister soeben im Amt bestätigt, obwohl es einen vielversprechenden Gegenkandidaten gab, dessen Thema Nummer eins der Ausstieg aus der Atomenergie war. Im Wahlkampf engagierten sich auch Mütter aus Fukushima mit ergreifenden öffentlichen Auftritten. Und wer glaubt, dass der GAU die Bürger politisiert habe, der täuscht sich: Die Wahlbeteiligung lag bei enttäuschend niedrigen 36 Prozent.

Nur in Fukushima selbst wird ernsthaft erwogen, Atomkraft durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Allerdings mit dem Hintergedanken, dass die neue Energiepolitik die Einwohner ermutigt, in der verstrahlten Region zu bleiben.

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