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Kultur: Ein kalter Blick in die Hexenküche

Von Rüdiger Schaper Nichts wie weg aus Berlin? Frank Castorf denkt über seine Zukunft nach.

Von Rüdiger Schaper

Nichts wie weg aus Berlin? Frank Castorf denkt über seine Zukunft nach. Soll der Intendant der Volksbühne unter bescheidenen ökonomischen Bedingungen weitermachen, kann er hoffen, dass sich Wowereits Senat zu einem deutlich verbesserten Angebot durchringt, um ihn über den 31. Juli 2002 hinaus zu halten? Oder geht es gar nicht nur ums Geld bei dieser bedrohlichen Krise - ist Berlins erfolgreichster Regisseur müde? Ende letzten Jahres hat Frank Castorf in Stockholm das Drama „Flucht“ von Michail Bulgakow inszeniert. Am Freitag gab es bei den Wiener Festwochen wieder eine Bulgakow-Premiere: die Adaption des legendären Romans „Der Meister und Margarita". Auch hier lassen sich Fluchtbewegungen beobachten. Castorfs Theater zieht sich mehr und mehr zurück in die Videowelt. Alles ist live gespiekt, doch über die Hälfte der fünfstündigen Expedition in ein surreales Russland zwischen Stalinismus und Turbokapitalismus verbringen die Schauspieler im Hinterzimmer, wo sie (auf sichtbaren Schienen) die Kamera umkreist. Wir hören sie lärmen, schwatzen, schwadronieren hinter der verspiegelten vierten Wand - und sehen sie in Großaufnahme oben, auf dem Dach des Containers, wie auf einer kommerziellen Anzeigetafel; schemenhaft und weit, weit weg.

Castorf und die Dialektik der Kamera: Angefangen hat das verführerische Spiel mit den „Dämonen“ und setzte sich fort bei den „Erniedrigten und Beleidigten"; auch diese beiden Dostojewski-Depressionsforschungen entstanden als Koproduktion mit den Wiener Festwochen. „SEX KINO“, blinkt die Leuchtschrift, und in Neonschrift steht darunter geschrieben: „I want to believe". Nach Ironie sieht das nicht aus. Ja, glauben, aber woran, an wen? Gott suchen in der Gosse? Das ist schon eine ausgesprochen russische Idee - in amerikanischem Styling.

Bert Neumanns Bühnen-Box, eine schäbige Spielhölle voller Glitter, Flitter, Automatengewimmer, materialisiert sich wie eine Halluzination in der Wüste von Las Vegas. Sir Henrys Soundtrack klingt nach porösem Country & Western. Selten verlassen Hübchen, Wuttke, Arnst & Co. ihre Zuflucht. Sie hocken in ihrem Kasten wie Kaninchen, die Kamera ist die Schlange, die sie anstarren.

Ein Theaterabend wie eine lebende Skulptur, hermetisch abgeschlossen. Eine melancholisch-aggressive Heimkino-Werkstatt Wieder ein großer Schritt weiter weg vom körperbetonten, bumsfidelen, plakativen Spektakel der Volksbühnen-Aufbaujahre. Die digitale Technik hat den Kartoffelsalat längst ersetzt. Castorf ist zum Grübler geworden. Er will, in faustischer Manier, aus dem Video ein neues Theater klonen.

Geblieben ist das gute alte Wohnküchen-Gefühl: Auch in den Video-Gewittern raufen sich die Volksbühnen-Kommunarden auf engstem Raum zusammen, kuscheln zu mehreren im Bett und hängen wie schlaffe Fahnen bei Windstille am Tresen.

Bulgakows Hauptwerk, das 1966, erst 26 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers in zensierter Form in Moskau erschien, hat der „Wind of Change“ der Perestrojka wohl auch zurück in die Archive der Weltliteratur geweht. Künstlertragödie, Liebesgeschichte, teuflische Satire, Abrechnung mit dem Stalinismus: Das „Meister und Margarita"-Universum liegt historisch-exotisch in weiter Ferne.

Frank Castorf und Dramaturg Carl Hegemann lesen aus Bulgakows antistalinistischer Faust-Variation freilich noch etwas ganz anderes, Komplexeres heraus: nicht bloß den absurden Verfallsprozess der Sowjetunion, sondern die Prophezeiung eines Realitätsverlustes, der inzwischen die ganze Welt und vor allem den Westen erfasst hat. Wir reiben uns die Augen. Wo sind die Schauspieler? Auf der Videowand laufen Straßenszenen aus dem heutigen Moskau, Stalin grinst aus alten Filmdokumenten, und im nächsten Bild sehen wir einen sowjetischen Stalin-Darsteller aus dem großen vaterländischen Kino. Und plötzlich grimassiert im Close-Up Martin Wuttke als hysterischer Pontius Pilatus, Hauptdarsteller in einem Sandalenfilm, der sich mit Jesus Christus in Gestalt des kahlgeschorenen, Zombie-artigen Kurt Naumann in eine mit Wasser gefüllte Badewanne setzt. Dazu arabische Musik. Und Römerkostüme. Sind das wirklich unsere Volksbühnen-Kämpfer? Wer Bulgakow nicht kennt, kapiert wenig. Die Vorlage sprengt jede Bühne. Schon der „Meister und Margarita"-Roman zoomt hin und her zwischen Moskauer Schauplätzen (Schriftstellersclub, Psychiatrie, fantastischen Variet‚-Szenen) und dem Heiligen Land – dort spielt das Pilatus-Buch, das den „Meister“, Michail Bulgakows Alter ego, um seinen Verstand und seine Existenz bringt. Der Teufel tritt auf, stürzt Moskau ins Chaos, rächt den Dichter. Henry Hübchen ist ein schlecht gelaunter Satan mit Sonnenbrille und Cowboyhut, Kathrin Angerer eine scharfe und noch übellaunigere Margarita, Milan Peschel ein irrer Kleindichter. Vielleicht müssen wir uns nur vorstellen, dass wir es mit einer betrogenen Betrügerbande zu tun haben, die die wahre Kunst im falschen Film sucht. Aber ein Scheißleben ist das. Das alte Theater schafft keine Abwechslung, das neue Video-Spielzeug erzeugt hellsichtige Depression.

Gibt es denn einen essenziellen Unterschied zwischen Sex-Kino, Technik-Anbetung und Ästhetik-Debatten? Ist das nicht alles Reaktion auf den Glaubensverlust, und wenn der Gott Stalin hieße, werden wir jetzt moralisch? Castorf und seine Helden winden sich in einem bockigen Mystizismus. Sie klettern auf Hochhaus-Modellen herum, fragen „Was ist Wahrheit“ und kriechen wieder in sich selbst zurück. Nie lag bei Castorf solche Distanz zwischen Zuschauern und Bühne.

Wir geraten Stunde um Stunde in tiefere Dämmerzustände. Die Volksbühne meditiert! Die Kamera ist der „Meister". Der hochkomplizierte technische Aufbau entblösst sich, führt einen künstlerischen Striptease vor: wie Theater und Video einen Bastard zeugen. Und wir sollen dabei zusehen, wie das gemacht wird: der kalte Blick in die Hexenküche.

Kultursenator Thomas Flierl ist am Freitag nach Wien geeilt, um Frank Castorf seiner Unterstützung zu versichern. „Berlin braucht die Volksbühne, Berlin braucht Castorf“, erklärte Flierl bei der Premierenfeier weit nach Mitternacht.

„Ich freue mich, dass Sie alle zu unserem ersten Durchlauf gekommen sind“, antwortete Castorf. Bis ein neuer Vertrag unterschrieben, bis diese irre und irritierende Inszenierung in Berlin zu sehen ist, gibt es für Meister und Lehrlinge noch verdammt viel zu tun.

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