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Kultur: Ein Knall, ein Qualm, ein Tusch

Getanzt wird wenig – aber ums eigene Überleben: Heinz Spoerli choreographiert Offenbachs „Schönes Leben“ an der Deutschen Oper Berlin

Wie das Leben aussähe, wäre es wirklich schön, das wissen die Tänzerinnen und Tänzer der Deutschen Oper Berlin derzeit nur zu genau: Sollten Politiker im Raum sein, so Sylviane Bayard mit entwaffnender Naivität auf der Premierenfeier zu Spoerli/Offenbachs „La belle vie“, so sollten diese jetzt mal gut zuhören.

Es grenze nämlich an ein Wunder, jawohl: an ein Wunder, so die Ballettchefin weiter, mit einer auf 30 Mitglieder herunter geschmolzenen Compagnie überhaupt noch abendfüllende Stücke zu produzieren. Die Verletzungsgefahr! Das Risiko! Deshalb fordere sie: mehr Tänzer für die Deutsche Oper. Und bessere Bedingungen natürlich, so ganz im Allgemeinen. Scharrender Beifall.

Nun, es waren Politiker im Raum, etliche sogar, und sie mögen Madame Bayards Worte mit einer Mischung aus Mitleid und Fassungslosigkeit vernommen haben. Denn ob und wie und von wem an der Bismarckstraße in Zukunft überhaupt noch getanzt und gespielt werden soll, das weiß zur Stunde ehrlicherweise niemand. Chuzpe also oder totale Gleichgültigkeit seitens der Kunst? Heilige schläfrige Einfalt?

Das wiederum Schönste, weil Heilsamste in solch misslicher Lage wäre – eine strahlende Kunstleistung. Eine Aufführung, aus der das Publikum in die nasskalte Charlottenburger Winternacht hinaus quillt und sich seine Mäntel, Schals und Mützen gar nicht erst überstreift, so heiß ist ihm ums Herz, so erregt und befeuert fühlt es sich von der unerhörten Kühnheit, der Brisanz und Unverzichtbarkeit des Abends.

Dazu böte Heinz Spoerlis Offenbach-Choreographie auf den ersten Blick sogar einige Angriffspunkte, jedenfalls in Stoffwahl und Musik, jedenfalls auf seinem geduldigen, mittlerweile reichlich gilben Konzeptpapier (das Stück wurde auf den Tag genau vor 15 Jahren am Stadttheater Basel uraufgeführt). Mit Parolen wie „Börsenkrach“ und „Bürger auf die Barrikaden!“, mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, dem ersten Hype der Großindustrie und all seinen akuten Rentner- und Gläubigerproblemen nämlich wäre das Zweite französische Kaiserreich, welches Spoerli die historische Folie bietet, eigentlich so etwas wie der frappierende Spiegel unserer Jetztzeit. Eine Gesellschaft berauscht sich an sich selbst, bis zum Delirium. Man tanzt auf dem Vulkan und sieht sich am Ende – Can-Can hin, Trikolore her – unverhofft unter dessen Lava-Massen begraben. „La belle vie“ oder: ein Menetekel bundesdeutscher, ja Berliner Gegenwart?

Doch weil nicht sein kann, was nicht sein kann, und weil Heinz Spoerli sich mit einer mehr als rohen, klappernden Dramaturgie zufrieden gibt und überdies einstudieren ließ (von Chris Jensen), und auch weil die Ballettschaffenden an der Deutschen Oper längst weltblind sind vor Zorn und Trauer über ihre Situation, findet dieses alles nicht statt. Oder anders noch: Die Stimmung in der Compagnie ist derart desaströs, dass man 90 Minuten und elf wackelige Bilder lang nichts sieht als – Angst, Verzweiflung, Lähmungserscheinungen: vom qualmenden Revolutionstableau über die großbürgerliche Familientafel bis hin zum spießigst möblierten Puff (Ausstatter Martin Rupprecht genügen hier zwei bronzene Elefanten und vieleviele wedelnde Federboas). Das wiederum stimmt gewaltig traurig. Da tanzen eine Handvoll Solisten und ein respektables Restensemble Produktion für Produktion ums eigene Überleben. Und sie tun es, weil jeder gute Geist, jede Vision sie längst verlassen hat, technisch wie künstlerisch so furchtbar mittelmäßig, dass einem alle Argumente für ihren Erhalt als Compagnie buchstäblich auf den Lippen zerbröseln. Die beiden Kellner etwa (Fabien Voranger, Robert Wohlert), die Spoerli so gern in die Diagonale schickt, stehen mit allem, was Synchronität bedeutet, auf Kriegsfuß, und der Can-Can, der den Abend stimmungsmäßig noch hätte aufhellen können, entfaltet den maximalen Schmackes einer Fernsehballett-Einlage aus den sechziger Jahren.

Auch die bürgerliche Familie, deren Ruin Spoerli in stille, starke Bilder stanzt (wirklich getanzt wird hier nur wenig), hat mit Sylviane Bayard persönlich als Mutter, Raimondo Rebeck als Vater und den „Kindern“ Rebecca Gladstone, Jane Margaret Kesby und Goyo Montero – trotz einiger virtuoser Soli – kaum einprägsame Persönlichkeiten zu bieten. Das Ärgste aber sind die Übergänge, die Wechsel zwischen den Orchestertutti (Peter Ernst Lassen am Pult des Orchesters der Deutschen Oper begreift Offenbach eher pragmatisch, eher klangmassig) und der Bühnenmusik (Klavier, Celli, Akkordeon): Mal geht der Lappen runter, mal geht er wieder hoch, und irgendwie rumpelt das Ganze schon weiter.

Arg lieblos auch der Schluss. Ein Knall, ein Qualm, ein Tusch, der Vater tot, die jüngere Tochter ganz oben auf der Barrikade. Dann hört es einfach auf, das „schöne Leben“. Als wäre es nie gewesen. Blackout. Und Blumensträuße, wie zur Grablegung.

Wieder am 23., 26. und 31. Dezember.

Christine Lemke-Matwey

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