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Kultur: Ein neuer Adam

Das Grauen der Genauigkeit: Menschheitsskulpturen von Ron Mueck im Hamburger Bahnhof

Die Frau mit den geschlossenen Augen sieht uns nicht. Sie spürt nicht einmal, wie nah wir ihr sind, wie wir auf ihre Haut zukriechen, bis wir sie fast berühren. Wie genau wir sie betrachten, mit nüchtern sachlichem Blick, im chirurgisch kalten Licht des Hamburger Bahnhofs. Es ist eine Grenzüberschreitung, zu der der britische Künstler Ron Mueck einlädt. Nicht, weil er Menschen in Situationen präsentiert, in denen sich jeder Voyeurismus verbietet: eine Hochschwangere oder Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt, die Nabelschnur verbindet sie noch, oder die sterbende Alte, der tote Vater. Sondern, weil er zulässt, dass wir diese Menschen anstarren, so schonungslos nah.

Als der Regisseur Patrice Chéreau vor drei Jahren seinen Film „Intimacy“ vorstellte, war nicht der ungestellte, ungeschönte Liebesakt das Skandalon. Sondern die Tatsache, dass Chéreau Menschen in ihrer alltäglichen Hässlichkeit zeigte: die alternde, faltig werdende Haut, gerötet nach dem leidenschaftlich ungeschickten Liebesspiel. Auch Ron Mueck kennt das, diese grausame Genauigkeit: Er zeigt die Risse der Haut, die sich über dem Bauch der Schwangeren wölbt, er zeigt die roten Pickel nach der Beinrasur, den Schweißfilm auf der Nase, die Stellen unter den Armen, an denen die Haut weich und faltig ist, und die Spur der Adern unter der Haut. Hyperrealismus nennt man das, wenn man es sich leicht machen will, und zieht sich zurück auf den stupenden Produktionsprozess, auf die vielen Stationen vom Tonmodell über den Fiberglasguss bis zur Silikonoberfläche, mit denen Ron Mueck ein täuschend ähnliches Abbild des Lebens schafft. Wenn man will, mag man sich noch darob gruseln, dass echtes Tierhaar, echtes Tierblut verwendet wurde – und ist den Plastinaten Gunther von Hagens gefährlich nahe gerückt.

Und doch wäre das ein Missverständnis: Ron Mueck braucht die Genauigkeit, die Täuschung, den Hyperrealismus, um den Zuschauer aufs Glatteis zu locken. Er verführt ihn dazu, seinen Skulpturen zu nahe zu treten – um ihn damit umso heftiger den eigenen Empfindungen auszuliefern. Nie hätte man gewagt, einen nackten Menschen so schamlos, voyeuristisch von Nahem zu betrachten. In dem Moment, in dem die Illusion der perfekt gestalteten Skulptur greift, bemerkt man den Tabubruch, machen sich Beklommenheit, Scham, ja Ekel breit. Nicht seinen Figuren nimmt Mueck die Würde, indem er sie den Blicken ausliefert. Sie bewahren ihre Intimität, mit geschlossenen Augen. Es ist der Zuschauer, der sich entblößt fühlt.

Schutz gewährt auch das geschickte Spiel mit Größe und Proportion. Schon auf der Biennale in Venedig 2001 hatte Mueck einen hockenden Knaben mitten ins Arsenale gesetzt, gigantisch aufgeblasen auf etwa vier Meter: ein Monsterkind. Auch die schwangere Frau in Berlin ist überlebensgroß, allerdings nicht monströs, sondern wie auf einen Sockel gehoben. In einer Porträtmaske zeigt der Künstlers sich selbst schlafend und auf etwa einen Meter vergrößert. Die Bartstoppeln und kurzgeschorenen Haare stehen fast wie abstrakte Zeichen im Raum. Andere Skulpturen hingegen sind stark verkleinert: Eine feine englische Lady, deren Krokolederschuhe und Perlenkette extra in ihrer Größe angefertigt wurden und die versonnen-resigniert vor sich hin blickt. Oder eine alte Frau, die zusammengekrümmt und mit offenem Mund schlafend unter einer weißen Krankenhausdecke liegt: Diese Figuren wirken fragil, schutzbedürftig, als würde man sie am liebsten zart in die Hand nehmen.

Wer in der ersten Ron-Mueck-Ausstellung in Deutschland spektakuläre Großskulpturen wie den „Big Boy“ aus Venedig erwartet hatte, wird enttäuscht: Die 10 Skulpturen in Berlin sind zumeist nicht lebensgroß. Es ist ein Kammerspiel, aber eines, das die letzten Fragen stellt: Geburt und Tod, Kindheit und Alter sind die Themen, auf die sich Mueck festgelegt hat. Im Umfeld der Young British Artists und der „Sensation“-Ausstellung mit einem Abbild seines toten Vaters („Dead Dad“) bekannt geworden, ist der in Australien geborene Mueck in wenigen Jahren zu einem Shooting Star der Kunstszene geworden. Die in Berlin gezeigten Skulpturen entstanden während eines Stipendiats an Londons National Gallery, als Auseinandersetzung mit den dortigen Madonnen.

Muecks Figuren stehen ohne Beiwerk im Raum, ohne soziale oder historische Verortung. Was das Spiel mit Hyperrealismus und Lebensechtheit angeht, hat Duane Hanson Pate gestanden. Doch Hanson hatte seine Figuren als soziale Prototypen angelegt – einige davon, die Putzfrau Queenie, die Touristen, der Wachmann und die Anstreicher, sind derzeit im Automobilforum Unter den Linden zu sehen. Auch Muecks Landsmännin Patricia Piccinini, die in diesem Jahr den Australischen Pavillon auf der Biennale in Venedig bestückte, schuf mit ihren täuschend realistischen Fantasiefiguren zwischen Schwein und Mensch einen recht wohlfeilen Kommentar zur Genmanipulation. Ron Mueck hingegen geht es um die existenziellen Grundbedingungen des Menschen, um das, was übrig bleibt, wenn man ihm alles schützende Beiwerk nimmt. Ein neues Adamsgeschlecht.

Hamburger Bahnhof, bis 2. November. Di bis Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog bei Hatje Cantz, br. 20 € (auch im Buchhandel).

Christina Tilmann

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