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Kultur: Ein Oratorium, so schlank und frei

Thielemanns Bach in der Dresdner Frauenkirche.

Und jetzt soll Weihnachten sein? Nach diesem Choral, dem die Trompeten zwar ihre schönsten Glanzlichter aufstecken – so festliche und goldene, wie es sie wohl nur in Dresden gibt –, der aber gleichwohl in der Luft hängen bleibt und sich wie ein Fragezeichen in den barocken Rundungen der Frauenkirche kräuselt? „Bei Gott hat seine Stelle/ Das menschliche Geschlecht“, singt der Chor, und Christian Thielemann hat das Herz, den Mut und die Chuzpe, diesen Schluss des Bach’schen Weihnachtsoratoriums offenzulassen. Kein Ausrufezeichen, kein Riesenritardando nach insgesamt drei Stunden Kantatenmusik, bloß weil’s geschafft ist und das Kindlein in der Wiege liegt und die drei Weisen aus dem Morgenland „Gold, Weihrauch und Myrrhen“ dargebracht haben und man sich selber nun an Glühwein und Rosinenstriezel gütlich tun darf. Nichts davon. Nur ein letzter Akkord, so federleicht, so metaphysisch, als entfleuchte die frohe Botschaft gleich wieder, wenn wir uns ihrer nicht endlich glaubhaft annehmen.

„Bei Gott hat seine Stelle/ Das menschliche Geschlecht“: Die Worte aus dem Matthäus-Evangelium liest und hört Thielemann als Aufforderung an den Menschen, sich dieser „Stelle“ immer wieder neu würdig zu erweisen. Klima, Krise, Kommerz, alles in schauerlicher Steigerung und Vervielfältigung – es schießt einem viel durch den Kopf zu Bachs Musik. Auch wie elitär es ist (bei Eintrittspreisen bis zu 78 Euro!), so behütet im Warmen und Trockenen zu sitzen. Dass ausgerechnet Christian Thielemann solche Konnotationen schafft, ja provoziert, verwirrt zunächst. Dieser Thielemann, den viele von seiner künstlerischen Genese und Überzeugung her („Musik ist unpolitisch!“) in Sachen Bach lieber in die mendelssohnös romantisierende Ecke eines Karl Richter rücken würden als in die Nähe einer „historisch informierten“ Aufführungspraxis à la Harnoncourt oder Herreweghe. Der Thielemann, der es seinen Feinden stets leicht gemacht hat. Und eben jener Thielemann, der Mann für das ach so schwere deutsche Fach, der Beethoven- Brahms-Bruckner-Exeget, dem das wichtigste „B“ noch weitgehend fehlt: Johann Sebastian Bach. Dieses Weihnachtsoratorium ist sein erstes.

In aufreizend schlanker Besetzung nehmen der Kammerchor der Frauenkirche und die Sächsische Staatskapelle im Altarraum Platz, das Solistenquartett weht herein (Daniel Behle, Sibylla Rubens, Christa Mayer, Hanno Müller-Brachmann), und was gleich darauf erklingt, kostet die Ohren dank der extrem mulmigen Akustik zwar einige Gewöhnung, ist an Dringlichkeit und Fröhlichkeit im Gestus, an Tanzeslust und Echodrall jedoch kaum zu überbieten. Thielemanns Tempi sind nicht nur flüssig, sondern flott, ja forsch, und dass sich dennoch keine Hektik breitmacht und kein unbotmäßiger Lärm, grenzt an ein Wunder. Schließlich muss eine Arie wie „Ich will nur dir zu Ehren leben“ in der vierten Kantate nicht nur von den beiden Solo-Violinen rhythmisch bewältigt werden, ohne zu rennen, sondern auch vom Tenor, eine deklamatorisch- stimmliche Höchstleistung. Behle löst sie mit Bravour.

Den Unruhepuls in dieser Partitur aufzuspüren, das quecksilbrige Schimmern und Schillern des Lebens, das große Trotzdem, das ist Thielemanns Leistung an diesen zweimal zwei Abenden (Teile eins bis drei sowie Teile vier bis sechs) – ohne Bach an die übliche HungerhakenRhetorik zu verraten. Manches mag da noch etwas ungelenk wirken, die Pausen zwischen den einzelnen Nummern etwa gehörten konsequenter ins Geschehen eingebunden. Und an den Kontrasten könnte er feilen, noch mehr und inniger die Stille feiern wie in jenen kreisenden, den kollektiven Atem stocken lassenden Takten, mit denen zuletzt der Choral „Ich steh’ an deiner Krippen hier“ anhebt. Vorfreudig, erregt, hellwach taumelt das Publikum hinaus in die Dresdner Nacht. Christine Lemke-Matwey

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