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Kultur: Ein Sammelband belegt die ideologische Nähe zum NS-Rassenwahn

Noch im Angesicht der Katastrophe lehnte er jede Verantwortung ab. "Wir haben uns nicht zu schämen", sagte der letzte Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Großadmiral Dönitz, zwei Tage nach der deutschen Kapitulation.

Noch im Angesicht der Katastrophe lehnte er jede Verantwortung ab. "Wir haben uns nicht zu schämen", sagte der letzte Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Großadmiral Dönitz, zwei Tage nach der deutschen Kapitulation. "Was die deutsche Wehrmacht und das deutsche Volk im Erdulden in diesen sechs Jahren geleistet haben, ist einmalig in der Geschichte und in der Welt."

Die Soldaten der Wehrmacht, zu denen Dönitz sprach, wollten nur zu gerne ihrem obersten Kriegsherrn in der bitteren Stunde der Niederlage glauben, entlastete er sie doch von jeder Schuld und persönlichen Verstrickung in die Mordmaschinerie des nationalsozialistischen Weltanschauungskrieges gegen den "jüdischen Bolschewismus" im Osten. Die Legende der "sauberen Wehrmacht" war geboren, noch ehe die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse die ersten Verbrechen aufzuklären beginnen konnten. Die historische Forschung hat diesen Mythos spätestens mit den Pionierarbeiten des Freiburger Militärhistorikers und ehemaligen Leiters des Militärhistorischen Forschungsamtes (MGFA), Manfred Messerschmitt, seit Ende der sechziger Jahre zerstört. Das Ausmaß der Beteiligung einer Vielzahl von Wehrmachtsdienststellen an den Verbrechen im "Vernichtungskrieg" gegen die Sowjetunion, ihre Funktion bei der Ermordung von Kriegsgefangenen, vermeintlichen Partisanen und Juden blieb einer breiten Öffentlichkeit dennoch verborgen oder wurde bewußt ignoriert und totgeschwiegen. Erst der oft polemische und von durchsichtigen politischen Absichten begleitete Streit um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung führte dazu, den Kriegsalltag des "Unternehmen Barbarossa" aus der Vergangenheit verklärter Familienerinnerungen in die Gegenwart zurückzuholen.

Der verdienstvolle Band des Militärhistorischen Forschungsamtes vermeidet billige Polemiken. Er versucht sich im Gegenteil behutsam und aus methodisch vielfältiger Sicht, dem Mythos und der Realität der Wehrmacht zu nähern. Das dickleibige Kompendium bemüht sich bis auf wenige Ausnahmen erfolgreich um eine sachliche Diskussion und bietet dem historisch Interessierten einen exzellenten Überblick über den Stand der militärgeschichtlichen Forschung zum Zweiten Weltkrieg. Dabei ist es den Herausgebern gelungen, neben der "klassischen" Militärgeschichtsschreibung auch Beiträge und Autoren der jüngeren Forschergeneration zu gewinnen, die sich verstärkt der Erfahrungs- und der Gesellschaftsgeschichte des Krieges zuwenden.

Mit der Öffnung der östlichen Archive kann zudem die bislang noch immer viel zuwenig betrachtete deutsche Besatzungsherrschaft in den baltischen Staaten, Polen und der Sowjetunion untersucht werden. Besonders der Beitrag des Erlanger Osteuropahistorikers Bernhard Chiari zeigt, wie sich das Leben eines weißrussischen Dorfes unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Okkupanten veränderte, wie die Wehrmacht ein "unheilvolles Wechselspiel zerstörerischer Kräfte in Gang brachte, das bereits nach kurzem nicht mehr zu beeinflussen war" und Terror und Gewalt in die besetzten Gebiete trug. Die Wehrmacht war verantwortlich für die völkerrechtswidrige und brutale Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener und beteiligte sich vielfach direkt an der Vernichtung der Juden, die als erstes aus dem Dorfleben verschwanden.

Nicht nur in den besetzten Gebieten im Osten zeigten die sogenannten "verbrecherischen Befehle" ihre verheerende Wirkung, die bereits zu Beginn des Rußlandfeldzuges die rassenideologische Ausrichtung des Krieges und die enge Verbindung von Wehrmacht und nationalsozialistischer Führung dokumentiert. Jörg Osterloh und Reinhard Otto verdeutlichen in ihren Beiträgen über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im deutschen Reichsgebiet die präzise Aufgabenverteilung zwischen Militär und Partei bei der "Aussonderung" und Exekution von ehemaligen sowjetischen Funktionsträgern in Partei und Verwaltung.

Der extreme und im Offizierskorps weit verbreitete Antibolschewismus enthemmte nicht alle, doch weite Teile der Wehrmacht und bahnte den Weg für eine bereitwillige Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Weltanschauungstruppen. Die anfängliche Distanz, die noch zu Beginn des Überfalls auf Polen zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen Parteidienststellen und Wehrmacht geführt hatte, wich allmählich und hob sich mit dem Beginn des Rußlandfeldzuges schließlich auf.

Während Otto und andere Autoren des Bandes den Begriff des "Vernichtungskrieges" gebrauchen, um den Krieg im Osten und gegen die Sowjetunion zu beschreiben, meldet Rolf-Dieter Müller in seinen einleitenden Bemerkungen erhebliche Zweifel an, ob das Erklärungsmodell nicht Gefahr laufe, vom "favorisierten Modell zum Dogma" zu degenerieren. Der Schritt sei nicht weit zu einer Theorie, die "sich konform mit der Betroffenheitspflege und Opferperspektive sieht", und eher "kulturkritisch" als wissenschaftlich motiviert sei. Zwar weist Müller zu Recht darauf hin, daß es für die Beurteilung der Wehrmachtsgeschichte notwendig sei, die Unterschiede und Situationen deutscher Besatzungspolitik im Zusammenspiel von Wehrmacht, Polizei und Zivilverwaltung zu untersuchen. Doch wirken seine Seitenhiebe in Richtung Hamburger Institut für Sozialforschung eher aufgesetzt und weniger überlegt als seine übrigen Bemerkungen über die Geschichte der Wehrmacht.

Müller irrt freilich, wenn er behauptet, die Wehrmacht sei "nicht mehr Teil unserer Gegenwart". Das immer noch spürbare Nachbeben der Diskussionen um die Wehrmachtsausstellung läßt nur vorsichtig erahnen, wie prägend und schmerzvoll die Erinnerung an die Erlebnisse des Krieges für die Generation der Väter und Großväter immer noch ist, für die der Großadmiral Dönitz keine Verantwortung übernehmen wollte.Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Oldenbourg Verlag, München 1999. 1317 Seiten. 98DM.

Dietmar Süss

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