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Cover eines Ikea-Katalogs.

© / ikea.de

Ein September-Klassiker: der Ikea-Katalog: Von den Schweden vermöbelt

Bevor die Blätter fallen, kommt er ins Haus geflattert: der Ikea-Katalog. Nach Jahren wieder gelesen, entpuppt er sich als topaktueller Spiegel einer unordentlichen, rückwärtsgewandten Welt. Eine Glosse.

Septembermorgen. Das ist Frühnebel und Sonnengold, das ist Eduard Mörike und Ikea-Katalog. „Im Nebel ruhet noch die Welt / Noch träumen Wald und Wiesen“, dichtet der Lyriker. „Wo jeder Tag beginnt“, titelt der Möbelhersteller unter dem Foto einer leeren Bettstatt vor einem Panoramafenster und setzt über das Editorial die vieldeutige Zeile „Jeder Tag ist der wichtigste Tag“.

Was kommt jetzt die mit dem dämlichen Ikea-Katalog, denkt sich spätestens hier der Kolumnenleser. Mörike, gut, das geht an, ist Kultur. Aber dass der Ikea-Katalog 2015 im Hausflur liegt, bevor die Blätter fallen, ist nur Kommerz, wenn auch Naturgesetz. Wo doch die Neugier darauf genauso nachgelassen hat wie die Aufregung über mehrere hundert Euro teure Zinkwannen im Manufaktum-Katalog. Wo doch die alltagskulturstiftende Ära, als Ingvar Kamprad die Deutschen ein für alle Mal vom Gelsenkirchener Barock befreit hat, schon Jahrzehnte zurückliegt. Wo doch nur noch zu Ikea gefahren wird, um Wagenrad-Knäcke zu kaufen.

Der Ikea-Katalog - ein Klassiker

Jedoch: Klaubt man ein Exemplar vom Boden auf und liest den Klassiker nach Jahren erstmals wieder, packt man sich an den Kopf und begreift: Dies ist der topaktuelle Spiegel der unordentlichen, rückwärtsgewandten Welt. Einer Welt, die Eskapismus praktiziert, wo sie politische Korrektheit predigt. Die Individualisierung fördert, wo sie Gemeinsinn behauptet. Einer Welt, die keinerlei überzeugende Aufbewahrungslösungen hervorbringt. Die Perfektionierung heuchelt, das Chaos füttert und mit der Lethargie paktiert. Allein dieses unübersichtliche, kleinteilige, vollgestopfte Layout. Ein Wimmelbild der Schriftgrößen, Farben, Linien, Pfeile, Fotoformate.

Orientierungslos, undurchdringlich, nicht zu begreifen. Und dann die das Individuum mal moralisch belehrende, mal kumpelhaft entlastende Ansprache: Konventionell angebaute Baumwolle wollen wir nicht akzeptieren; herrscht Unordnung im Regal, einfach das Rollo runterziehen. Dann der Rücksturz in die von hausfraulicher Vorratshaltung und klaren ehelichen Rollenbildern geprägte Nachkriegszeit: Doll, diese Doppelseite mit perfekt eingeweckten und eingetupperten Lebensmitteln und einer Phalanx von sechs Recycling-Mülleimern. Noch doller, der herausziehbare samtrote Schmuckeinsatz für den Kleiderschrank und das Glasgeschirr „Frodig“ mit „Brautkleider“-Dekor. Dazu die Teelichter, von der Kriegsgeneration zu Recht „Bunkerlichter“ geheißen. Trübe Funzeln, die weder wärmen noch erhellen und statt Gemütlichkeit zu spenden höhnisch Rußpartikel blaken.

Sind Sie Stapler, Falter oder Hänger?

Septemberabend. Das ist Nachsommer, das ist Stifter, das ist Möbelkatalogweh. 329 Seiten voller drängender Fragen: „Bist du Stapler, Falter, Hänger?“ Nur ein kleines Menschlein, möchte man sagen. Schlecht, schmutzig, schuldig, unorganisiert. Und hört sich stattdessen viel zu leise „Herr Ober, einen Doppelkorn!“ in den Hausflur rufen.

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