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Kultur: Ein Stoff, aus dem die Künste sind

Der Tod ist ein häufiger Gast der Berlinale: Auch Patrice Chéreaus Wettbewerbsbeitrag „Son frère“ erzählt eine Geschichte vom Sterben

Die Krankenschwestern sind freundlich. Behutsam ziehen sie Thomas den Kittel aus, legen Plastikplanen unter seinen ausgemergelten Körper, seifen seine Brust ein und rasieren ihn, von oben bis unten, wegen der Operation. Auch die Schamhaare müssen weg. Der einzige brutale Moment in „Son frère“: das Geräusch des Rasierapparats.

In der Pressekonferenz wird Patrice Chéreau auf Mantegnas „Toten Christus“ angesprochen, wegen der verkürzten Perspektive bei dieser Szene. Nein, sagt der Regisseur, er sei zwar der Sohn eines Malers und werde seit der „Bartholomäusnacht“ oft nach Gemälde-Zitaten in seinen Filmen gefragt. Aber diesmal hat er nur die Verrichtungen des Pflegepersonals vor einer Milz-Operation filmen wollen. Wo soll die Kamera da stehen, wenn nicht am Fußende des Bettes.

Thomas (Bruno Todeschini) hat eine unheilbare Bluter-Krankheit. Tödlich ist die Krankheit nicht, aber schon ein einfacher Kratzer kann zum lebensgefährlichen Blutsturz führen. Nach einem Rückfall kommt Thomas ins Krankenhaus und bittet seinen Bruder Luc (Eric Caravaca), sich um ihn zu kümmern. Chéreau hat „Son frère“ – nach Philippe Bessons Roman – mit kleinem Team verfilmt, in wenigen Monaten, die ihm zwischen zwei Projekten überraschend zur Verfügung standen. Zwei Brüder, eine Parallelmontage: das Frühjahr im Hospital, dazwischen der Sommer in der Bretagne. Aus dem Meer, sagt der alte Fischer zu Beginn, kommt keiner zurück. Und so schnell, sagt der Regisseur, habe er noch nie einen Film gedreht.

Schon wieder, denkt die Berlinale-Besucherin: Schon wieder die Chronik eines angekündigten Todes, schon wieder Schmerz und Schwäche und Agonie – wie in den Wettbewerbsfilmen „My Life without me“ und „The Hours“. Noch einmal letzte Stunden wie in Spike Lees „25th Hour“, noch einmal letzte Fragen wie in Soderberghs „Solaris“. Es wird viel gestorben auf der Berlinale 2003. Reflektiert das Kino, dieser Seismograph für kollektive Befindlichkeiten, da etwa, dass sich die globalisierte Menschheit zurzeit besonders viele Gedanken über die eigene Sterblichkeit macht? Wenn dann auch noch der Produzent Daniel Toscan du Plantier auf der Berlinale tot zusammenbricht (Nachruf auf S. 27), erhalten die Kinobilder vom Tod mitten im Festivalzirkus bestürzende Brisanz.

„Man braucht weder deutsch noch romantisch zu sein, um zu wissen, dass der Tod siegt“, meint Chéreau. Und dass der Satz vom Sieg des Todes von Stalin sei. Sex, Gewalt, Tod: Chéreau, der große Tabubrecher, interessiert sich weniger für letzte Fragen als für einfache Dinge (womit letzten Fragen am ehesten beizukommen ist). Das tut er immer, im Theater wie im Film. „Ich zeige Körper in Räumen. Körper, die sprechen,“ sagt er. Es sei aufregend, sich der Wirklichkeit zu nähern und zu versuchen, sie zu verstehen.

Schnöde Wirklichkeit: Krankenhausalltag. Katheter, Infusionsbeutel, Haut, Adern, Pickel, Narben, Blut, Schweiß. Dazu die schwarzen Felsen am Meer, ein bisschen Familienkrach am Krankenbett (Thomas grinst) und Männersex (Luc hat keine Lust auf seinen Lover). Dabei hält die Kamera nicht voyeuristisch drauf, sie ist den Protagonisten einfach nur nahe. So nahe wie ein Angehöriger, der bei der Visite im Zimmer bleiben darf.

In „Intimacy“, der vor zwei Jahren den Goldenen Bären gewann, wollte Chéreau herausfinden, wie Körper beim Sex aussehen und wer er sie verändert. Dabei hatte sein Versuch, etwas Obsessives zu filmen und dabei auf jeden obsessiven Blick zu verzichten, etwas Krampfhaftes. Die Kritik feierte es als Ästhetik der Hässlichkeit. Diesmal verzichtet Chéreau auf diese Ästhetik, auch auf Versuchsanordnungen oder so etwas wie Protest. „Son frère“ schimpft nicht über die Verdinglichung der Patienten im Krankenhaus. Es ist nur ein unscheinbarer, beinahe minimalistischer Film über die Kraft, die es kostet, am Leben zu bleiben. Über den Unterschied zwischen gesunder und kranker Hautfarbe. Und über die Sätze, die man sagt, wenn es nicht weitergeht. Beiläufige, schnelle, „französische“ Sätze.

Trotzdem ein Film mit großen kleinen Momenten. Luc, der gesunde Bruder, ist schwul, Thomas nicht. Beiläufig erzählt Luc dessen Freundin, dass Thomas sein „erster Mann“ war. Der erste, dem er einen runtergeholt hat. So ist das, wenn man jung ist. Heute, als Erwachsene, mögen sie sich nicht besonders. Begehren ist nicht im Spiel. Aber dann gibt es den einen, emphatischen, die Wirklichkeit sprengenden Augenblick, der vieles ändert und die übrigen Bilder infiziert. Der erzählt, dass der sieche und der begehrenswerte Körper identisch sind. Denn die Haut, diese dünne Membran, ist beides: der letzte Schutz vor dem anderen und der erste Berührungspunkt. Es kommt auf den Blick an, wie beim Vexierbild.

Ein Traumbild, möglicherweise. Luc sieht es, kurz nachdem Thomas rasiert wird. Er fantasiert sich selbst ins Bett des Kranken, an die Stelle von Thomas, und plötzlich ist es wie früher: Er, der kleine Bruder, wird von dem älteren schikaniert. Verkehrte Welt, eine Rachefantasie: Nun wird der ältere von der Krankheit erniedrigt. In diesem verwirrenden, entlarvend ehrlichen Moment – Marianne Faithfull singt einen Song vom Tod dazu, die einzige Musik im gesamten Film – sehen die Körper der Brüder sexy aus. Chéreau steckt den an Schläuchen hängenden Bettlägerigen in einen schicken Anzug, arrangiert und drapiert die Leiber, überhöht und stilisiert die Wirklichkeit. Nein, Chéreau ist kein Realist. Er ist nur besessen vom Leben als dem Stoff, aus dem die Künste sind.

Und dann sagt er auf der Pressekonferenz: „Augen, Körper, Sex – das sind die schönsten Dinge im Leben.“ Er könne sie nur empfehlen.

Heute 9.30 und 23.30 Uhr (Royal Palast), 20 Uhr (International), am 16. um 20 Uhr (International)

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