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Ein Treffen mit der Autorin Nellja Veremej: Die Häuser sind meine Felsen

Für Nellja Veremej ist Berlin ein Ort, an dem sich die tektonischen Platten West- und Osteuropas besonders knirschend übereinander schieben. Jetzt legt sie ihren Debütroman vor: „Berlin liegt im Osten“.

Konzentriert und mit offenem Blick sitzt Nellja Veremej am Rand des belebten Rosa-Luxemburg-Platzes. Hier kann man sie oft treffen, denn es ist einer ihrer Lieblingsorte in der Stadt und der mit Bedacht gewählte Schauplatz ihres Romans. Hier fanden Anfang der dreißiger Jahre besonders verbissene Schlachten zwischen Kommunisten und SA statt, und nach einem Attentat flohen die kommunistischen Täter in die Sowjetunion, wo sie in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen gerieten.

Noch heute, meint Nellja Veremej, hört man hier, wie sich die tektonischen Platten Ost- und Westeuropa besonders laut knirschend übereinanderschieben. Doch ist Berlin für sie nicht nur eine Grenzstadt, sondern auch eine Landschaft, die sie genießt. „Sie ist für mich das, was für die Romantiker Gebirge oder Wälder waren. Die Häuser sind meine Felsen, die Menschen eigenartige Bäume, die Straßen eigensinnige Flüsse“, sagt ihre Erzählerin Lena.

Neugierig schaut sie auf den Platz, als ginge Lena dort gerade vorüber, unterwegs zu ihrem Schützling in der Torstraße, dem alten Herrn Seitz. In dieser Straße, wo bis zum Bau der U-Bahn um 1910 arme, aus Osteuropa eingewanderte Juden wohnten und heute luxussaniert wird, öffnen sich die historischen Schichten in immer neuen Querschnitten, die ihr Roman „Berlin liegt im Osten“ mit seinen genau verorteten Szenen festhalten will. „Als ich mit dem Roman fertig war, gab es viele der beschriebenen Orte schon nicht mehr. Wie das Zitat von Döblin an einer Fassade am Alexanderplatz, das verschwand Buchstabe für Buchstabe. Auch der russische Laden in der Torstraße, in dem Lena sich mit russischen Bekannten trifft, ist verschwunden. Die Stadt ändert sich so schnell, dass Momentaufnahmen wichtig werden.“ Auch die Gesichter, die Geräusche der Baumaschinen und die Blicke aus einsamen, peinlich aufgeräumten Zimmern auf das ziellose Gewimmel des Alexanderplatzes wollte sie aufbewahren – wie es auch Döblin in den Beobachtungen seines Franz Bieberkopf tat.

Als Nellja Veremej 1995 nach Berlin kam, hatte sie schon viel erlebt: Geboren wurde sie 1963 in Kema, einer Militärsiedlung bei Sverdlovsk. Ihr Vater, ein Pilot, kam bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Im Roman erzählt sie diese tragische Geschichte, ebenso den folgenden Umzug von Mutter und Tochter zu den Großeltern in den Kaukasus. Sie hat ihrer Hauptfigur Lena die Stationen ihres eigenen Lebens geliehen, einschließlich des Studiums in Leningrad und der amüsanten Geschichte der wilden, stolzen Großmutter, die ihren im Krieg verschollenen Mann vergötterte – bis der tatsächlich, und auch noch mit viel Geld, zurückkehrte: Von da an bekämpfte sie ihn wie einen Dämon.

„Wir liebten den Westen grenzenlos, restlos, in Bausch und Bogen“, bekennt Lena, während sie mit ihrem Geliebten Schura im Leningrader Perestroika-Taumel zwischen endlosen Partys und ratloser Verzweiflung versinkt. Nellja Veremej nennt die Wende eine kleine Apokalypse, die ihre Generation nachhaltig traumatisiert habe, „denn wer das einmal erlebt hat, dass die Welt, in der du aufgewachsen bist, die selbstverständlich und unzerstörbar schien, untergeht, der fühlt sich nie mehr sicher.“ Auch deshalb ist sie eine genaue Beobachterin der ständigen Veränderungen in Berlins alter Mitte. Sie will wissen, wie die Straßen und Plätze geworden sind, was sie sind, und was unter dem Pflaster liegt – eine Leidenschaft, die sie mit dem von ihr verehrten W. G. Sebald teilt.

In diesem Roman geht es um Weggehen und Ankommen

Dieses erstaunliche, auf Deutsch geschriebene Debüt erzählt zwei subtil ineinandergreifende Geschichten: Da ist zunächst die resolute Lena, die es in Berlin wahrlich nicht leicht hat. Sie jobbt als Altenpflegerin und hat nicht nur eine aufmüpfige, pubertierende Tochter zu bändigen, sondern auch einen verträumten, kindisch unrealistischen Ehemann, der schnell reich werden will und ein Verlustgeschäft nach dem anderen macht.

Der alte Ulf Seitz ist das genaue Gegenteil: zurückhaltend, kultiviert und korrekt, genau so, wie Russen sich den idealen Deutschen vorstellen. Er, der in Berlin geboren ist und sein ganzes Leben in der Nähe des Alexanderplatzes verbracht hat, wird zur zweiten Erzählstimme des Romans – ein Kunstgriff, der ein differenziertes Zwiegespräch eröffnet über russische Zwangsarbeiter, die Schuld der Sieger, die Arroganz der Besiegten und Denkverbote in Ost-Berlin.

Herr Seitz erlebte den Zusammenbruch der DDR-Strukturen als braver Journalist und muss sich jetzt von seinem Sohn vorwerfen lassen, er habe zwei Diktaturen gegenüber eine „kriecherische Haltung“ eingenommen, dabei wollte er nur immer alles richtig machen. Ein weitverbreiteter Typus, sagt Nellja Veremej, den sie bei aller Selbsttäuschung sympathisch, fast schutzbedürftig findet: Vielen solcher Menschen kam sie als Pflegerin und später als Russischlehrerin sehr nah.

Es geht um Träume und Fremdsein, um Weggehen und Ankommen in diesem poetischen, aber auch ungeschönt realistischen Roman, der mit einer zarten Winterszene im eingefrorenen Kema beginnt und mit einem spartanischen Weihnachtsfest im Krankenhaus endet. Der Schock der Erinnerung brachte Nellja Veremej zum Schreiben, als sie endlich in Berlin sesshaft geworden war.

Wie weit der Weg war, den sie zurückgelegt hatte, das erkannte sie erst bei den Reisen in das staubige Städtchen ihrer Kindheit. Die Passagen im kargen, ihr fremd gewordenen Häuschen der Mutter mit den zugeklebten Fenstern gehören zu den witzigsten, aber auch traurigsten des Romans. Hier funktionieren ihre Blicke in die Vergangenheit wie eine verzerrende, verdrehende Camera obscura, was auch als Hommage an ihren Lieblingsschriftsteller Vladimir Nabokov zu verstehen ist.

Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten. Roman. Jung und Jung, Salzburg/Wien 2013. 318 S., 22 €.

Nicole Henneberg

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