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Demonstranten im Gezi-Park in Istanbul.

© AFP

Eindrücke von den Protesten in Istanbul: Tanz unter der Brücke

Gespenstische Szenen in Istanbul: Die Gäste einer Hochzeit tanzen taumelnd und hören nicht auf, als die Rauchbomben fallen. Eine Braut im weißen Kleid strahlt, während die Menschen vor den Fenstern des Lokals vor dem Tränengas flüchten.

Der Besitzer des kleinen Hotels in Sultanahmet strahlt: „Istanbul ist gut, alles vorbei!“ Weniger später hat die türkische Polizei den Taksim-Platz geräumt, mit Wasserwerfern, Rauchbomben, Tränengas.

Eine knappe Woche später brennt das Gas auch in den eigenen Augen, viele tragen jetzt weiße Masken. Erdogans Räumung auch noch des Gezi-Parks hat das Schlachtfeld nur ausgedehnt. An diesem Abend beginnt es in Karakoy an der Galata-Brücke. Die Demonstranten singen Anti-Erdogan-Lieder, eine Rauchbombe genügt und noch eine, und der Verkehr an dieser zentralen Stelle der Stadt fließt wieder ungehindert. Weiter geht es mit den rhythmischen Slogans.

Ist Istanbul gut? „Ja“, sagt Sultan Ö., Mitte 30, er arbeitet im Management eines Istanbuler Großunternehmens. „Erdogan ist zu weit gegangen, er kann keine Fehler eingestehen, das ist sein Problem. Als ihm gestern eine Gewerkschafterin ins Gesicht sagte, dass die Ursache des Konflikts soziale und psychologische Probleme seien, hat er zuerst aufgeregt behauptet, er wisse mehr von Soziologie und Psychologie als sie, und dann blieb ihm die Luft weg.“

„Ja“, meint der 57-jährige Übersetzer Osman B., der mit Rucksack und Stock auf der Galata-Brücke unterwegs ist. Erdogan habe es lange genossen, durchs Land zu fahren und sich feiern zu lassen. Aber jetzt, wo er Zustimmung verliert, reagiere er panisch. Sein Temperament lässt nicht zu, dass er zurücktritt. „In acht Monaten sind Kommunalwahlen, das wird der erste Dämpfer sein“, glaubt Osman B. „Und dann geht es nur noch bergab. Wir haben die Nase voll von Leuten, die denken, dass sie wie Sultane über uns herrschen könnten. Alle drei Monate kommt ein neues Gesetz, das uns vorzuschreiben versucht, was wir essen, was wir trinken, wie wir leben sollen. Erdogan hat ignoriert, dass sich die Gesellschaft verändert hat, jetzt bekommt er die Rechnung.“

Auf viele macht der Premier den Eindruck eines altmodischen Möchtegern-Patriarchen, dem die Kontrolle über seine zersplitternde Familie entglitten ist und der sich nur noch mit Gewalt zu behelfen weiß. Die Demonstranten erhalten denn auch Unterstützung von zahlreichen Autofahrern, die sich zwischen Barrikaden und Protestlern hindurchschlängeln. Keiner ist wütend. Beifahrer kurbeln die Fensterscheibe herunter und klatschen, Taxifahrer stellen sich mit ihren Wagen den Wasserwerfern in den Weg.

Es gibt gespenstische Szenen. In zwei Lokalen unter der Galata-Brücke werden gerade Hochzeiten gefeiert. Die Gäste tanzen taumelnd und hören nicht auf, als die Rauchbomben fallen. Eine Braut im rauschenden weißen Kleid strahlt wie von einer anderen Welt, während die Menschen vor den Fenstern der Lokale vor dem Tränengas flüchten. Um Mitternacht hat sich der Gefechtsschauplatz nach Eminönu verlagert, nur eine Tramstation von Gülhane entfernt, jener Gegend mit den großen Touristenattraktionen, der Hagia Sophia, der Blauen Moschee und dem Topkapi-Palast. Wieder sperren Demonstranten die Straßen, wieder schreitet die Polizei ein.

Polizeigewalt als Politikersatz. Den ganzen Abend ist kein Politiker zu sehen, der mit den Demonstranten zu reden versuchte, auch kein hoher Polizist. Die Fronten sind scheinbar klar, dabei sind unter den Kritikern auf der Straße keine Aufwiegler zu bemerken, keine Parteien oder Gruppierungen, die den Protest zu instrumentalisieren versuchen. Der junge Student, der die Wirkung des Tränengases bei hunderten Demonstranten mit einem Spray abzumildern versucht, zittert stark, er kann kaum sprechen. Der einzige Politikername, der immer wieder skandiert wird, ist der des Staatsgründers Atatürk. Jenes Mannes, der die Trennung von Kirche und Staat durchsetzte, die Erdogan schleichend aufzuheben versucht. „Er sagt immer, er vertrete seit den letzten Wahlen 50 Prozent der Bevölkerung“, sagt Sultan O. „Diese 50 Prozent hätten genau so viele Rechte wie wir. Das stimmt. Aber er tut so, als gelte es, diese Rechte mit Waffengewalt durchzusetzen statt mit den Mitteln der Demokratie. Er ist immer Partei, dabei ist er der Ministerpräsident aller Türken.“

Um zwei Uhr morgens patrouillieren die Polizisten in den Seitenstraßen von Eminönu. Andere schlafen in TürkiyeBussen oder auf den Treppen einer kleinen Moschee. Die Straßen sind leer, nach einem kurzen Wärmegewitter herrscht Ruhe. Wenigsten für ein paar Stunden.

Der Schweizer Journalist und Schriftsteller Hans-Peter Kunisch, 50, lebt in Berlin und Irland. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Die Verlängerung des Markts in den Abend hinein“ (Blumenbar-Verlag).

Hans-Peter Kunisch

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