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Auch er war mal TAT-Leiter. Rainer Werner Fassbinder beim Proben mit Hanna Schygulla.

© picture alliance / dpa

Eine Buchvorstellung zum TAT am Berliner Ensemble: Wo die Revolution begann

Das Frankfurter TAT war ein Theaterlabor, lange vor Castorfs Volksbühne oder dem HAU. Am Berliner Ensemble wurde jetzt ein neues Buch über das vor zwölf Jahren geschlossene Haus vorgestellt.

Das hat’s wohl noch nie gegeben. Mitten in eine Buchvorstellung auf der dicht gefüllten Probebühne des Berliner Ensembles platzt ein Geflatter und Geschnatter, doch nein, nicht unter den altprominenten Theaterkünstlern und Wissenschaftlern auf dem Podium. Es sind aufgeregte Flügelschläge hoch in den frühsommerwarmen Lüften, knapp unter den Deckenscheinwerfern. Keine Mauerschwalbe, vielmehr eine veritable Ente aus dem nahen Landwehrkanal hat sich ins Theater verirrt, ist zur nun panischen Flugente mutiert, kreist über den Zuschauerköpfen, stürzt irgendwo herab – und in dieser Mischung aus Hitchcock und tierischem Mischgeschick springt BE-Intendant Claus Peymann auf, jagt selber durch den Raum und wirft sich in einer Bühnenecke über den kurz gelandeten Fluggast, trägt ihn (flügelschlagend) hinaus ins Freie.

Zuvor hatte Peymann schon an seine vital zupackendere Aufbruchsphase erinnert. Da war erst ein Filmausschnitt aus der berühmten Uraufführung von Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ vor jetzt 50 Jahren – am 8. Juni 1968 – im Frankfurter Theater am Turm gelaufen, dem legendären TAT. Worauf Peymann im Gespräch mit dem einstigen Frankfurter Theaterverleger und Spiritus Rector der Szene, Karlheinz Braun, höchst animiert über die famosen Zeiten der Achtundsechziger-Avantgarde plauderte („Ich war idealistischer Kommunist und bin es teilweise noch heute!“).

Karlheinz Braun hat zusammen mit Ulrike Schiedermair (einst Betriebsdirektorin am TAT) und Sabine Bayerl jetzt im Leipziger Henschel Verlag den im BE präsentierten Band „Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor“ herausgegeben (208 Seiten, 29,90 Euro). Auch das hat es noch nie gegeben: ein so tolles, intelligent opulent bebildertes Buch über ein Theater, das bereits vor zwölf Jahren geschlossen wurde. Doch tatsächlich ist damit ein bis heute weiterwirkendes Zeitalter zu besichtigen. Aus der „Landesbühne Rhein-Main“ war ab Mitte der 1960er Jahre erst am Eschersheimer Turm, dann im Bockenheimer Depot unter den drei Großbuchstaben TAT die deutsche Mutter aller neueren Theaterschlachten entstanden. Nicht nur Handkes damals sensationelle „Publikumsbeschimpfung“ (frontal, postdramatisch handlungslos, eine Sprechrockperformance für vier Schauspieler und vier Mikrofone) hat die Grenzen allen älteren Theaters gesprengt.

Am TAT war nach Peymann auch Rainer Werner Fassbinder Direktor, später Hermann Treusch, Tom Kühnel und Robert Schuster, Tom Stromberg, der Multimediakomponist und Regisseur Heiner Goebbels und William Forsythe. Es gab Mitbestimmung, Selbstzerfleischung und experimentelle Triumphe. Etliche spätere Berliner Schaubühnen-Schauspieler kamen vom TAT, und heute sind es die Theatermacher Jan Lauwers, René Pollesch, Stefan Pucher, die Köpfe von Rimini Protokoll, She She Pop, Gob Squad, genauso wie internationale Größen à la Jan Fabre, Willem Dafoe und seine New Yorker Wooster Group oder die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaker, die am TAT auftraten und nun Beiträge im Buch liefern. Die Migration zwischen Literatur, Performance, Bildender Kunst, Musik und Medien – alles dort da gewesen, vor Castorf, dem HAU oder den jetzigen Berliner Festspielen.

Auch das Theater und die Tiere gab’s schon im TAT: Joseph Beuys rezitierte mit einem Schimmel Goethes „Iphigenie“ und Shakespeares „Titus“, Marina Abramovic trat mit Ratten auf. „In Frankfurt fing alles an“, schreibt Claus Peymann im TAT-Buch. Und nun hieß es: Ente gut, alles gut.

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