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Kultur: Eine Diskussion im Berliner Martin-Gropius-Bau

Warum waren solche Verbrechen in Deutschland möglich, nicht aber im faschistischen Italien?Philipp Lichterbeck In einer Umfrage zur "Pränatalen Diagnostik" hat kürzlich ein großer Prozentsatz deutscher Frauen erklärt, sie würden abtreiben, sobald sie wüssten, dass ihr Kind sich fettleibig oder homosexuell entwickelt.

Warum waren solche Verbrechen in Deutschland möglich, nicht aber im faschistischen Italien?Philipp Lichterbeck

In einer Umfrage zur "Pränatalen Diagnostik" hat kürzlich ein großer Prozentsatz deutscher Frauen erklärt, sie würden abtreiben, sobald sie wüssten, dass ihr Kind sich fettleibig oder homosexuell entwickelt. Das Thema Selektion ist in Deutschland historisch belastet. Die Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors, in der die Logistik des totalitären Staates dokumentiert wird, ist zur Zeit im Bau; eine provisorische Ausstellung unter freiem Himmel, eingerichtet gegenüber dem Berliner Abgeordnetenhaus, überbrückt den Zeitraum bis zur Eröffnung des Museums, das in diesen Wochen schon zu einer Veranstaltungsreihe in den benachbarten Gropius-Bau zum Thema Euthanasie lädt.

Klaus Dörner, Psychiatriehistoriker aus Gütersloh, spricht über die nationalsozialistischen Krankenmorde, zieht Bilanz. Ein Jahrestag, den man in einem anderen Zusammenhang kennt, ist aktueller Anlass für den Vortrag: Am 1. September 1939 hat nicht nur der Zweite Weltkrieg begonnen, sondern auch der Massenmord nach dem "Euthanasie-Erlass" der Nazis.

Dörners Rede ist nüchtern. Er referiert den Stand der Forschung und beschreibt die Konsequenzen der deutschen Geschichte für die Psychiatrie. Trotzdem kommt es am Ende des Abends zu Grabenkämpfen, die wider Erwarten den aktuellen Bezug zum Thema aussparen: Peter Sloterdijk und sein Lob der pränatalen Diagnostik. Denn in diesem Punkt waren sich alle Zuhörer im gefüllten Vortragssaal einig: Pränatale Diagnostik sei Selektion und bedeute in letzter Konsequenz nichts anderes als eine Variante des NS-Programms. Dörner selbst ist der erste Forscher gewesen, der sich 1967 in einer Studie mit den Krankenmorden während des NS-Regimes auseinandergesetzt hat. Bis dahin schien der Komplex in Deutschland tabu, so berichtet er, da viele in den sechziger Jahren praktizierende Ärzte selbst in das Euthanasieprogramm verstrickt waren. Vor 20 Jahren erst führte der Generationenwechsel dazu, dass die Zahl der Publikationen zum Thema rasant anstieg. Damals bemerkte die Öffentlichkeit, dass es neben den Juden und Zigeunern noch eine andere Gruppe systematisch Verfolgter gegeben hatte. Das Euthanasieprogramm der Nazis funktionierte als Vorstufe für den Holocaust; die ersten Vergasungen wurden an Behinderten in Posen "ausprobiert", nachdem sich Erschießen als emotional zu belastend für die Exekutoren herausgestellt hatte. Der Wissenschaft jedoch verschaffte dieses Mordprojekt den Zugang zu menschlichem "Experimentiermaterial".

In einem Bericht des Historikers René Talbot heißt es lapidar über die Forschungsanstalt im brandenburgischen Eichberg: "Der Reichsausschuss ließ Kinder aus verschiedenen Anstalten in die Anstalt Eichberg bringen. Dort wurden sie beobachtet, getötet und seziert, anschließend schickte man ihre Hirne nach Heidelberg." Zu den interessantesten Passagen in Dörners Vortrag gehören seine Erklärungen, warum solche Verbrechen in Deutschland möglich waren, nicht aber im faschistischen Italien. Hierfür sei das deutsche "Massenkrankenhauswesen" verantwortlich, wie es sich im 19. Jahrhundert gebildet habe. In diesem System wurde der Kranke aus der Verfügungsgewalt der Familie in die der Klinik überführt. Die Errichtung von Anstalten für psychisch Kranke war zudem ein Projekt der Kontrolle.

Ein Menschenbild stand bei dieser Entwicklung Pate, so spitzt der Psychiater Dörner in der Schlussdiskussion zu, das heute eine Renaissance erlebe. Hier ziehe sich eine gerade Linie von den Anfängen der Moderne zu ihrem Projekt, den Menschen als defektloses und leidensfreies Wesen herzustellen. Am Ende der Debatte steht die grundsätzliche Frage, wie fürsorglich und wie bevormundend eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern umgehen darf. Während der Psychiater zu bedenken gibt, dass auch die Angestellten sozialer Institutionen ihren Arbeitsplatz erhalten wollen, wird ihm entgegengehalten, viele Behinderte seien durchaus fähig, betreut außerhalb des Heimes zu leben - zur Abhängigkeit erziehe man sie nur.

Steht am Ende solcher Einwände die Vorstellung von einer sozialen Atomisierung des Gemeinwesens, in dem sich keiner mehr um den anderen schert? Nachdenklich stellt Dörner diese Gegenfrage.Nächste Veranstaltung: "In Ehrfurcht vor dem Schwächeren", 24. 9., 15 Uhr

Gelände Topographie des Terrors. © 1999

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