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Kultur: Eine Fahne haben

Peter von Becker hat die Nase voll vom Flaggezeigen Die Deutschen sind modische Leute. Und enorm lernfähig, trotz Pisa.

Peter von Becker hat die Nase

voll vom Flaggezeigen

Die Deutschen sind modische Leute. Und enorm lernfähig, trotz Pisa. So ist aus einem Volk von Korn- und Kümmeltrinkern in wenigen Jahren die weltgrößte Grappagemeinde geworden, und viele von uns sehen in dem sauren Wort Essig einen heute ausgestorbenen Begriff für Balsamico. Das ist zwar nicht ganz korrekt, aber dafür neu und weltläufiger, irgendwie.

Neu und fast weltläufig ist jetzt auch das Fahnenschwenken geworden. Das Schwenken der eigenen Farben. Was wie ein nationaler Spleen wirken könnte, ist zunächst ein Globalisierungseffekt. Vor allem seit der Fußball-WM. Nur nach der Wende sah man in Deutschland so viel Schwarzrotgold – aber das hatte doch andere, politischere Gründe (auch wenn Fußball und Olympia mehr Deutsche eint als alle Politik). Natürlich hat der Stolz einer zuvor gedemütigten und nun überraschend wiedergeborenen Fußballweltmacht hier mitgespielt. Der Phönix-Rudi-Effekt. Aber so richtig nachgemacht haben wir’s den Türken. Und den Koreanern, diesen uns bisher unbekannten Begeisterungsspezialisten. Hier ein Volk von freundlichen roten Teufeln, dort eines mit mehr roten Fahnen und Autohupen als der kühnste, technikgläubigste Sozialist je hätte träumen können. Und wer hätte gedacht, dass von Türken und Koreanern lernen, für die Deutschen mal siegen und jubeln lernen heißen würde. Von den Brasilianern gar nicht zu reden.

Jetzt sind die Fahnen eingerollt, und bleiben es hoffentlich eine Weile. Denn neben dem Schönen des Feierns und der gemeinsamen Freude hat das Fahnenhissen und Fahnenschwenken, wenn es zum Alltagsritus wird, auch etwas Stupides. Wir wollen es nicht dämonisieren und lassen Diktaturen und die ganz großen Zeiten der deutschen fahnenschwingenden Uniformität mal beiseite. Aber: Ursprünglich waren Fahnen und Wappen gerade ein Zeichen der Vielfalt. Mittelalterliche Heere brauchten Fahnenträger, um nicht nur Freund und Feind zu unterscheiden, auch die eigenen Scharen und „Fähnlein“ waren oft ganz verschiedener Herkunft. Ähnliches galt für die einzelnen Zünfte. Wo indes alle nur immer dieselbe Fahne zeigen, wird aus Vielfalt schiere Einfalt. Das kann einem Europäer zum Beispiel in den USA auf die Nerven gehen: wenn tausende von mehr oder weniger gleich aussehenden Häusern, Siedlungen, Städten ihre immergleichen Stars and Stripes im Vorgarten hissen. Das war schon lange vor dem 11. September so – und ist immerhin dadurch erklärlich, dass Einwanderer aus der ganzen Welt sich auf diese Weise auch symbolisch zu ihren Vereinigten Staaten bekennen. Es ist Amerikas besondere Mischung aus Individualismus und Konformität.

Wir sind keine Amerikaner und haben auch noch nicht die Vereinigten Staaten von Europa. Schön, wenn viele verschiedene Fahnen wehen. Und wenn der Satz, einer hat eine Fahne, mal wieder einen alltäglicheren Sinn bekommt – so lange die Fahne dann nicht aus dem Auto weht.

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