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Kultur: Eine Kindheit in Nazi-Deutschland

In einem Interview hat der Schauspieler Michael Degen unlängst selbst Verwunderung darüber geäußert, wie er so lange mit dem, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist, im Stillen hat leben können. Doch was heißt Kindheit, wenn ein Junge im Alter von 11 Jahren mit seiner Mutter in die Illegalität fliehen muss?

In einem Interview hat der Schauspieler Michael Degen unlängst selbst Verwunderung darüber geäußert, wie er so lange mit dem, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist, im Stillen hat leben können. Doch was heißt Kindheit, wenn ein Junge im Alter von 11 Jahren mit seiner Mutter in die Illegalität fliehen muss? Dennoch trägt Degens Autobiographie "Nicht alle waren Mörder", der Bericht jener Jahre zwischen 1943 und 1945, die er als jüdisches Kind gemeinsam mit seiner Mutter versteckt im Untergrund überlebt hat, den Untertitel "Eine Kindheit in Berlin". Und es lässt sich keine Ironie in beidem finden - wiewohl es eine geraubte Kindheit ist, von der wir lesen. Denn für Degen scheint es entscheidend zu sein, dass es Menschen gab wie Lona, die das Textilgeschäft von Degens Vater, den die Nazis in Sachsenhausen totprügelten, übernommen hatte. Sie teilte die Einnahmen, so dass die beiden für ihre Verstecke auch notfalls bezahlen konnten, wie bei der vor der russischen Revolution nach Berlin geflohenen Adligen Ludmilla, mit der Degens Mutter absurde Diskussionen darüber führen muss, wer nun schlimmer sei, Stalin oder Hitler. Es gab auch den "meschuggen SS-Mann", der sich in die attraktive Frau Degen verliebt hatte und der noch kurz vor dessen Tod die Entlassung des Vaters aus dem KZ erwirkte. Und da war auch der Altkommunist Hotze, der sie lange Zeit in seiner Laube versteckte, oder der Lokführer Redlich, der nicht wusste, wie er mit dem leben sollte, was er auf seine Fahrten in die Konzentrationslager im Osten gesehen hatte und dessen Sohn Rolf der beste Freund von Michael war, bis er dann kurz nach der Befreiung beim gemeinsamen Spielen im Wald von einem Russen erschossen wurde.

In gradliniger, unprätentiöser Sprache schildert er seinen Alltag im Wahnsinn, den einige bereit waren, ohne Not mit ihm zu teilen. Herausgekommen ist dabei keine große Literatur, aber dennoch fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen, so lebendig treten seine Darsteller aus der Erzählung hervor. Und wohl nur selten ist von einer Mutter-Sohn-Beziehung zu lesen gewesen, in der die gegenseitige Liebe und Abhängigkeit buchstäblich überlebenswichtig ist - auch um den Häschern immer wieder Haken schlagend zu entkommen; etwa wenn sie gemeinsam mit Nazi-Bonzen auf "den Endsieg" anstoßen. Wundert es da, dass der Junge später als erwachsener Schauspieler sogar einmal Adolf Hitler geben konnte?Michael Degen "Nicht alle waren Mörder. Eine Kindheit in Berlin". Econ Verlag München, 1999. 332 Seiten, 39,90 Mark.

Alexander Pajevic

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