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Kultur: Eines langen Tages Reise

„Weegee’s Story“: Eine Berliner Ausstellung würdigt den Pionier der Fotoreportage

Er war schnell, und er kannte seinen Preis. Seinen Wagen hatte er in ein fahrendes Laboratorium verwandelt. Der Kofferraum mit mehreren 4 x 5-Speed- Graphic-Kameras bestückt, einer Batterie von Blitzbirnen, Filmkassetten, Zigarren, Salami und ein paar Kleider zum Wechseln. Sogar eine Schreibmaschine fuhr mit, auf der er hastig Beschriftungszettel tippte. Im Fond knackte derweil ständig das Radio und war auf den Polizeifunk eingestellt. Es heißt, der Mann, den alle nur Weegee nannten, habe in dem Fahrzeug praktisch gewohnt. Sein Weegee-Mobil machte ihn zum schnellsten Polizeireporter New Yorks. „Ich brauchte nicht mehr zu warten, bis das Verbrechen zu mir kam; ich konnte zu ihm kommen.“

Das tat er dann auch: Auf den 228 Originalabzügen, die ab diesem Wochenende im Berliner Postfuhramt zu sehen sind, entspannt sich ein Kaleidoskop der Grausamkeiten. Morde, Verkehrsunfälle, Selbstmorde, Brände, Schlägereien. Weegee hatte einen untrüglichen Instinkt für die Gegensätze und Konfliktlinien, die im von der Weltwirtschaftskrise aufgebrochenen Sozialgefüge Amerikas zum Vorschein kamen. Während am schwarzen Nachthimmel über der Stadt eine Neonleuchtschrift verheißt, „New York is a friendly town“, sieht man einsame Gestalten durch spärlich erhellte Straßen wanken. Der Tod, oft genug gewaltsam, wird zum öffentlichen Ereignis. Leichen liegen im Rinnstein, auf Dächern und Treppenabsätzen, und immer sickert das Blut noch aus ihnen heraus. Manchmal liegt sogar die Waffe daneben. Verbrecher, die von der Polizei abgeführt werden, haben Pflaster im Gesicht, zerschlagene Visagen, abgewetzte Schuhe.

In die Dunkelheit hinein verspritzt Weegees Kamera unaufhörlich grelle Blitze. Aus kleinen Nachbarschaftstragödien, die oft selbst den Betroffenen ein Rätsel bleiben, macht er Nachrichtenspektakel. Dass er einmal auf einer gigantischen Werbetafel in Form einer Pistole reitend zu sehen ist, zeigt, dass er sich der Analogie von Foto und Projektil durchaus bewusst war.

Weegee ist der Prototyp des Fotoreporters. Diesen Ruf erwarb er sich bereits zu Lebzeiten. Zehn gute Jahre, von 1935 bis Kriegsende, reichten aus, um den gebürtigen Galizier zum Star eines Berufsstandes zu machen, der gerade im Begriff war, seine klassische Periode zu erleben. In Weegee kam alles zusammen. Der skrupellose Materialismus eines Spezialisten, für den jede Sekunde, die er vor den Konkurrenten am Schauplatz eintraf, bares Geld bedeutete. Und gleichzeitig der Sinn fürs Soziale, für Ungerechtigkeiten. Eine seiner berühmtesten Aufnahmen („The Critic“) zeigt zwei vornehme Damen mit weißen Roben vor der Oper, eine Frau steht daneben, mit zerschossenem Hut und abgewetztem Mantel, und schimpft.

Ins Sammy’s, wo die feine Gesellschaft Manhattans feiert, schneit er herein, um Clark Gable, Henry Fonda, Frank Sinatra und Warhol als die andere Seite der Finsternis zu fotografieren. Immer wieder setzt Weegee das Zeichenhafte amerikanischer Straßenszenen geschickt in Szene. An der Fassade eines brennenden Wohnhauses, das die Feuerwehr mit in der Hitze verdampfenden Wasserfontänen eindeckt, sieht der Fotograf ein Werbebanner: „Simply add boiling water“.

Hinter solchen Fotos steckt der Glaube, dass die Wirklichkeit für sich selbst spricht. Während sich Überzeugungstäter wie Frank Capa durch den spanischen Bürgerkrieg bewegen und die historische Dimension dieser Auseinandersetzung zu illustrieren versuchen, bleibt Weegee an seinem Grenzwellen-Empfänger kleben. Allzu viel Empathie kann er sich in diesem Geschäft nicht leisten. Sein Krieg findet zur Ablenkung statt. „Es war die Zeit der Depression“, rechtfertigte er sich später, „und die Leute konnten ihren eigenen Kummer ein Weilchen vergessen, wenn sie etwas über den Kummer der anderen lasen.“ So verraten viele seiner Bildtitel einen gewissen Hang zur Belustigung. Ein Erschossener, der zufällig vor einer Bar namens The Spot auf dem Asphalt liegt, wird mit der Zeile bedacht: „Murder under the spot“. Mord im Rampenlicht.

Weegee kam 1899 als Usher Fellig in Zloczow bei Lemberg zur Welt. Sein Vater wanderte in die USA aus und holte die Familie nach, als Usher, der sich nun Arthur nannte, zehn war. Noch im Knabenalter verdingte er sich bereits als Straßenfotograf. Später wurde er Laborant bei Acme Newspictures, einer Bildagentur der HearstPresse. Schon da sei er der Schnellste gewesen, prahlte er später: Dunkelkammer-Assistenten nannte man damals „Squeegee Boys“. Bei wichtigen Sportereignissen pflegte er in einem Rettungswagen vor der Arena zu warten, bis ein Bote ihm die belichteten Fotoplatten herausbrachte. Dann eilte der Wagen mit Blaulicht und Polizeieskorte zu seinem Bestimmungsort, während Weegee die Filme entwickelte. Meist war er der Erste. Als seine Firma sich daran zu gewöhnen schien und seinen Lohn nicht weiter aufbesserte, wurde er 1935 freier Fotograf.

Er war ein Mann des best picture. In Bilderserien dachte er nicht, weil in Tageszeitungen wie der „New York Times“, „Herald Tribune“, „Sun“ oder „Daily News“, für die Weegee vornehmlich arbeitete, für Bildstrecken kein Platz war. Trotzdem enthält die Berliner Schau eine Reihe konzeptueller Bildfolgen. Zum Beispiel eine Serie aus vier Aufnahmen desselben Hauseingangs, in dem jeweils ein anderer Obdachloser schläft.

Der Ausstellung von C/O Berlin liegt die Sammlung Berinson als größtes Vintage-Archiv des Fotografen außerhalb der USA zugrunde, das nun erstmals vollständig gezeigt wird. Die besten Weegee-Aufnahmen zählen zu diesem Bestand, den Hendrik A. Berinson seit 22 Jahren zusammenträgt. Er hat auch Abzüge ausgegraben, deren ungewöhnliche Perspektive und raffinierte Lichtdramaturgie den Künstler hinter dem Sensationsreporter offenbaren. Das unterdrückte Mitleid mit all den Zerschlagenen, Niedergestochenen und Abgeknallten wanderte in die Bildkomposition ab.

Dass es sich um Gebrauchsfotos handelt, zeigen die vielen Spuren, die Falten und Knicklinien auf den Abzügen. Sie sind das Vermächtnis einer Zeit, die mit den Menschen auch nicht besser umgegangen ist. Am Ende hängt „Weegee the Famous“ seinen Job an den Nagel, um 1945 nach Hollywood zu gehen. Er könne, klagt er, seine Leichen nicht mehr verkaufen. Es gebe zu viele.

Weegee’s Story – Fotografien aus der Sammlung Berinson, C/O Berlin im Postfuhramt, Mitte, bis 6. Mai, tägl. 11 - 20 Uhr.

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