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Kultur: Einfach kompliziert

Ob Bahnpreise, Steuerpolitik oder Kulturindustrie: Immer mehr Menschen verlieren den Anschluss an das System - und das Vertrauen. Zu Risiken und Nebenwirkungen der allerneuesten Unübersichtlichkeit

Reformen sind meist stille Projekte, die von langer Hand vorbereitet und eines Tages mit viel Getöse durchgeboxt werden. Nicht immer handelt es sich dabei um Verbesserungen. Die Reform, die derzeit die Gemüter am meisten bewegt, ist eine der größten der vergangenen Jahre. Bahnchef Hartmut Mehdorn möchte mit seiner 200 Millionen Euro teuren Fahrpreisreform der Deutschen Bahn das System vereinfachen. Außerdem sollen die Effizienz erhöht und das Kaufverhalten der Kunden untersucht werden.

Conjoint Measurement nennt sich die Methode, mit der erforscht wird, wie viel Geld die Kunden bereit sind, für einzelne Produkte auszugeben. Die Begleiterscheinungen muten kurios an. „Früher hätte nicht mal Einstein unsere Preise verstanden“, wirbt ein Plakat mit nachträglich entwaffnender Ehrlichkeit. Heute, so heißt es weiter, versteht sie jedes Kind. Schön wär’s. Oder ist es etwa verständlich, wenn eine Strecke im Fernverkehr plötzlich billiger ist als das selbe Ticket im gewöhnlich langsameren Regionalverkehr? Wenn die Flexibilität des Fahrgastes schrittweise abgebaut wird? Wenn verbilligte Plätze kontingentiert werden und das neue System statt einfacher Ermäßigungen ein kompliziertes mehrstufiges Verfahren einführt?

Die Bahn könnte bald als Synonym für einen alles erfassenden Trend gelten: den Trend zu steigender Komplexität. Das unter dem Stichwort der Flexibilisierung annoncierte Verwirrspiel treibt mitunter seltsame Blüten – in nahezu allen Lebensbereichen. Die Preise für Linienmaschinen wechseln fast stündlich. Wer im Voraus bezahlt, kann sparen, doch nur, wenn er im Internet bucht. Wer aber keinen Computer hat, also ältere, ärmere oder schlechter ausgebildete Menschen, wird an den Rand des Systems gedrängt – oder gar gänzlich davon ausgeschlossen. Auch die Erleichterungen, die sich viele Nutzer von der neuesten Kommunikationstechnologie versprachen, haben sich nur teilweise erfüllt. Elektronische Post hat die Kommunikation zwar beschleunigt und die Entfernungen verringert. Doch hat sie das Leben wirklich vereinfacht?

Betriebssoziologen haben erforscht, welchen Nutzen Unternehmen aus der elektronischen Vernetzung ihrer Mitarbeiter ziehen. Das Ergebnis: Zwar erleichtert das Intranet den Datenzugriff, doch die Kommunikationswege werden längst nicht immer abgekürzt. Oft verführt die Technik zu unnötigen Umständlichkeiten, wenn etwa zwischen zwei benachbarten Büros fünf E-Mails hin- und hergeschickt werden, obwohl ein einziges Flurgespräch für Klarheit sorgen könnte. Manche Unternehmen haben E-Mail-freie Tage eingeführt, um die Mitarbeiter wieder an das Gespräch zu gewöhnen. Zudem findet eine zunehmende Verschriftlichung statt. Der moderne Homo Faber verbringt immer mehr Zeit am Rechner. Die Menge der Daten, die erst nach ihrer Erfassung in nützliche oder unbrauchbare unterschieden werden können, zeitigt eine steigende Informationsflut, die vor allem eines kostet: Zeit.

Der Trend zur Unüberschaubarkeit ist nicht neu. Unter dem Begriff der „neuen Unübersichtlichkeit“ prägte Jürgen Habermas bereits Mitte der achtziger Jahre einen Terminus, der einer ganzen Epoche als Schlagwort diente. Kritiker haben das Habermas–Wort zwar vor einer allzu allgemeinen Auslegung in Schutz genommen: Dieser philosophische Diskurs dürfe nicht eins zu eins auf die Wirklichkeitsbeschreibung einer als verwirrend empfundenen Lebenswelt übertragen werden. Heute gewinnt genau diese Übertragung an Aktualität – mehr noch als eine akademische Debatte, die mittlerweile in Form von Klausurwissen und Reclambändchen ihre eigene Historisierung betreibt. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit durchdringt längst auch das private Leben. Die Vielzahl der Fahrpreise, Stromanbieter und Telefontarife ist mit „unübersichtlich“ noch milde bezeichnet. Die Privatisierung vormals monopolistischer Institutionen bringt als unabdingbare Folge die Parzellierung in immer feiner verästelte Bereiche mit sich. Wer den Überblick behalten will, muss erheblichen Aufwand treiben.

Auch die Politik bleibt von der wachsenden Komplexität nicht verschont. Die Rentenreform übersteigt das Aufnahmevermögen des durchschnittlich interessierten Laien bei weitem. Eine vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebene 177-seitige Informationsbroschüre bemüht sich redlich um Verständlichkeit. Das liest sich dann so: „Der Monatsbeitrag der Rente ergibt sich, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten Entgeltpunkte mit dem Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn vervielfältigt werden.“ So werden Sie geholfen. Dabei ist die „Riester-Rente“ nur ein Beispiel für das Dilemma der Politik. Wie soll jemand, der schon die eigene Altersvorsorge nicht begreift, das Regelwerk der Arbeitsmarktpolitik oder der Steuerreform durchschauen? Die gebetsmühlenhaft vorgetragene Rede von der Bürgergesellschaft, der Selbstverantwortung und Eigeninitiative, wie sie auch der Koalitionsvertrag beschwört, wird da leicht zur Floskel. Immer mehr Menschen verlieren den Anschluss an das System. Sinkende Wahlbeteiligungen sind ein Indiz.

Dem Problem der wachsenden Unübersichtlichkeit widmete bereits der Systemtheoretiker Niklas Luhmann seine berühmte Habilitationsschrift über das Vertrauen. Sein Thema war die steigende Zahl der Optionen, die „unübersehbare Fülle der Wirklichkeiten und Möglichkeiten“. Die Welt präsentiert sich dem Einzelnen demnach als „unfassbare Komplexität“, die zum „Bezugsproblem seiner Selbsterhaltung“ wird. Die Lösungsmöglichkeit zur Reduktion dieser Komplexität ist für Luhmann das Vertrauen. Nur wer – bei allem gebotenen Misstrauen - in die Funktion gesellschaftlicher Systeme vertraut, kann sich in einem unüberschaubaren Ganzen zurechtzufinden. Das war 1968.

In unseren Zeiten der Globalisierung scheint die Komplexität in dem Maße gestiegen, in dem das Vertrauen in die Regelwerke des gesellschaftlichen Systems selbst geschwunden ist. Umso mehr müht man sich, vertrauenswürdige Personen vor die bisweilen chaotische Wirklichkeit zu schieben. Die wachsende Fixierung auf Prominente in Kultur und Medien ist dafür nur ein Zeichen. An die Stelle abstrakter Inhalte setzt man die Vertrauen erweckende Person. Nichts illustriert die Sehnsucht nach personalisiertem Vertrauen besser als der jüngste amerikanisierte Bundestagswahlkampf. Man erinnere sich nur an das Bild vom nachdenklichen Kanzler, der nachts im Schein der Schreibtischlampe über den Problemen der Nation brütet, nach dem Motto: Wenn alles schläft und einer wacht, dann ruhe Deutschland, gute Nacht.

Die Macht gewinnt heutzutage, wer am besten in der Lage ist, Komplexität zu reduzieren – oder zu verschleiern. Das haben die Wahlen gezeigt. Vielleicht sollte man sich an Niklas Luhmann halten.

Je komplexer das soziale System, so schrieb er, desto notwendiger sei das Vertrauen als rationale Organisationsform der Gesellschaft. Heute möchte man – mehr noch als Luhmann dies tat – die Spiegelseite dieses Prinzips betonen: die Notwendigkeit des Misstrauens. Das scheint nicht nur für jene Reformprojekte geboten, die angeblich „jedes Kind“ versteht. Denn auch dies lehrt das Beispiel der Bahn: Die angebliche Übersichtlichkeit hat in Zeiten der neueren Unübersichtlichkeit ihren Preis – und das gilt auch für die meisten Reformen.

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