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Kultur: Eiserne Pudel

Eine Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert

Als Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede ein Jahr nach Kriegsende die Vision eines vereinten Europas vorstellte, meinte er nur den Kontinent – Großbritannien sollte als eigenständige Großmacht außerhalb dieses Systems bleiben. Auch für Charles de Gaulle gehörte Großbritannien, das schließlich doch um Aufnahme in die EWG, dem Vorläufer der EU, bat, nicht zu Europa: Statt echtes Engagement für Europa zu zeigen, verhielte sich England eher wie ein Pudel Amerikas. Tatsächlich war der Weg in die EWG erst nach dem Tod de Gaulles frei.

Aufnahme fand Großbritannien nun in die bemerkenswerte und von Ulrich Herbert herausgegebene Reihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert“, in der die Geschichte einiger europäischer Staaten zwar für sich dargestellt, zugleich aber der Kontext der europäischen Entwicklung berücksichtigt wird. Verfasst wurde der Band von dem Freiburger Sozial- und Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier. Er erinnert daran, dass die Briten seit dem Beitritt 1973 hohe Beiträge entrichteten, ohne – wie Frankreich – von den üppigen Agrarsubventionen zu profitieren. Gekürzt wurden die britischen Gelder erst unter Margaret Thatcher, der nach Churchill wohl markantesten politischen Figur im England des 20. Jahrhunderts. Getrotzt hat die Eiserne Lady auch den mächtigen Gewerkschaften. Rückblickend betrachtet wäre es aber zu kurz gegriffen, konstatiert Brüggemeier, ihre Politik als Generalangriff auf die Gewerkschaften zu betrachten. Vielmehr wurden in den 80er Jahren Regelungen eingeführt, die sich in Ländern wie Deutschland bereits bewährt hatten. So mussten Gewerkschaftsführer fortan regelmäßig und geheim gewählt und Streiks durften erst nach einer Abstimmung ausgerufen werden. Als Erfolg erwies sich auch das zentrale Element ihrer Privatisierungspolitik: Der Verkauf der Council Houses ermöglichte es Millionen, ein Haus zu erwerben, sodass 1988 nahezu zwei Drittel der Bevölkerung in den eigenen vier Wänden lebte.

Als Thatcher dann 1989/90 die „Poll Tax“ durchsetzen wollte, wonach alle Hausbesitzer unabhängig von Besitz und Einkommen gleich besteuert werden sollten, provozierte sie heftige Proteste. Dass sich die Premierministerin wegen ihrer Ablehnung der deutschen Vereinigung auch außenpolitisch isolierte, wie Brüggemeier glaubt, erscheint wenig überzeugend. Gewiss hat Thatcher die Vorbehalte gegen die Vereinigung besonders schroff und beharrlich formuliert – verbreitet waren sie aber auch in Paris, Rom oder Den Haag, von Prag ganz zu schweigen.

Während Thatcher die Vereinigung nicht aufhalten konnte, wurde ihr wirtschaftsliberaler Kurs auch später von der Labour-Partei kaum korrigiert. Nicht anders als die frühe Industrialisierung und Demokratisierung sieht der Verfasser die von Thatcher entfesselte wirtschaftliche Dynamik als Ausdruck von Modernität. Zugleich zeigt er jedoch, dass die extreme Beschleunigung der wirtschaftlichen Liberalisierung auch desaströse Folgen haben kann, wenn man nur an die nach wie vor andauernde Finanzmisere denkt.

Neben der ausgeprägten Modernität ist auch das Festhalten an Traditionen für Großbritannien charakteristisch. Dass sich beides nicht ausschließen muss, schreibt Brüggemeier am Schluss seines Buches: „Personen, die im Januar 1901 an der Beerdigung (Königin Victorias) teilnahmen und das heutige Großbritannien besuchen könnten, würden auf Vertrautes stoßen: Eine Monarchin, die seit fast 60 Jahren regiert, eine Elite, die überwiegend in Oxford und Cambridge studiert und oft eine der alten Public Schools besuchte; oder Nachrichten von Soldaten, die in weit entfernten Gebieten für Königin und Vaterland ihr Leben lassen.“







Franz-Josef Brüggemeier: Geschichte Großbritanniens

im 20. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2010. 463 Seiten,

26,95 Euro.

Boris Peter

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