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Kultur: Ekstasen an der Heimatfront

NACHTFLUG Nachdem der Nachtpilot in Berlins dämmeriger, guter Stube neben dem Palais am Festungsgraben gelandet ist, um vorbei an dem lethargischen Pförtner die theatralische Palais- Treppe emporzueilen, verweilt er fürs Aufwärmen – eine verwinkelte Gangecke entfernt von der ersten Station seiner Route – in der Tadschikischen Teestube . Dort hocken unbeschuhte Gäste unter orientalischen Bildern auf üppig gepolsterten Holzpodesten.

NACHTFLUG

Nachdem der Nachtpilot in Berlins dämmeriger, guter Stube neben dem Palais am Festungsgraben gelandet ist, um vorbei an dem lethargischen Pförtner die theatralische Palais- Treppe emporzueilen, verweilt er fürs Aufwärmen – eine verwinkelte Gangecke entfernt von der ersten Station seiner Route – in der Tadschikischen Teestube . Dort hocken unbeschuhte Gäste unter orientalischen Bildern auf üppig gepolsterten Holzpodesten. Beschuhte Gäste sitzen an hohen Tischchen und bestellen Lomonossow-Tee. Lomonossow (so erfährt der Pilot von einem jungen Akademiker, an dessen Tischchen er verweilt) war kein Teezüchter, sondern ein Universalgenie: ein gelehrter Poet, der die Entstehung von Wärme mit der Reibung von Stoffpartikeln erklärte, der das Verhältnis zwischen dem Russischen und der Liturgiesprache Altslawisch regelte, der aber auch Prunkpoeme und Tragödien geschrieben hat. Deutlich klüger geworden, schreitet der Pilot den Korridor hinab zum Museum Mitte von Berlin: wo zwischen Vitrinen, Kupferstichen, Büsten, Spiegeln und historischem Mobilar ein Kunsthistoriker die „Gesellschaft und Geselligkeit rund um den Gensdarmen-Markt im 19.Jahrhundert“ heraufbeschwört. Das konzentriert lauschende Vortragspublikum besteht aus bejahrten Geschichtsfans. Der Referent erfreut mit süffisanten Nestbeschmutzerbonmots – „Die schlechteste Kneipe ist noch besser als der beste Salon“ – aus guter alter Zeit. Ob der umtriebige sozialistische Salonlöwe Ferdinand Lassalle eine Art Jürgen-W.-Möllemann-Typ gewesen sei?, will ein Zuhörer wissen. Um in der Gesellschaft anzukommen und aufzufallen, müsse man großen Aufwand treiben, antwortet der Referent. Die Salons, in denen unterschiedlichste Gesellschaftsschichten intellektuell und amourös verkehrten, seien eine utopische Scheinwelt der Gleichberechtigung gewesen; zur Aufgabe der Salondamen habe es gehört, die Gesprächsermüdung durch immer neue Themen zu verhindern. So sei man von einem Thema aufs andere gesprungen, das habe durchaus was mit Möllemann zu tun! Die Fragen der Geschichtsfans sprudeln, der Historiker pflügt mit jeder Antwort durch weitere Anekdoten-Felder. In den Heimatmuseumsvitrinen spiegelt sich das Biedermeier der Gegenwart. Südostflug, nach Kreuzberg.

Vor dem Eingang zur Passionskirche am Marheinekeplatz , einem neoromanischen Backsteinbau, stehen die Raucher, für ´ne schnelle Zigarette. In der Kirche wippt das Multikulti-Auditorium. Am Altar, vor dem Kruzifix, unter dem Mosaik, das die Taube des Heiligen Geistes zeigt, spielen Taraf de Haldouks. Der Pilot lehnt neben dem Portal. Die stoischen Roma-Musiker sind kleine Männer, meistens mit Bäuchlein. Akkordeon, Bass, Hackbrett. Der quäkende Sänger hebt den Zeigefinger, breitet die Hände aus. Ein Geiger improvisiert. Balladen einer balkanesischen Familienfete, Erzählungen in fremder Zunge. Hier kümmert sich kein Lomonossow um die Liturgiesprache. Im Gang wird getanzt. Eine Frau im langen Schwarzen stößt spitze Schreie aus. Das Publikum klatscht mit. In den Bänken erheben sich Zigeuner und solche, die es werden wollen, zum Tanz: ein Heimspiel für Heimatklänge und solche, die es werden sollen. Unter der Kuppel strahlt eine alte Lampenschale grünrotgelb. Der Sound verliert sich in Trance-Schleifen. Aus der Sakristei kommen weitere Musikanten. Ein Mann im grauen Anzug, ohne Zähne, beginnt seinen Sprechgesang. Orientalische Harmonien, trauriglustig. Er tanzt ein Schrittchen, schaut übern Bauch auf seine Füße. Breitet die Arme aus. Klarinette, Flöte, Gitarre. Lamento, Tempo, Synkopen! Die Kirche ist Basar und Festplatz. Tänzer erobern den Chor. „Sexy, sexy“ singt der Geiger am Mikro mit krächzender Stimme. Langhaarige Frauen in langen Kleidern tanzen miteinander. Oder mit den Männern. Die Posaune, geblasen von einem roten Hemd, schreit auf. Die Frau im roten Spaghettiträgerkleid tanzt mit ihrem Knirps im roten Kapuzensweater. „Sexy, sexy.“ Ein bisschen Bauchtanz, bebende Dekolletés, blinkende Paillette. Oben in der Kanzel fiedelt ein Fiedler. Geliehene Heimat, ekstatische Himmelfahrt. Der Pilot geht zur Abflugpiste.

Nordostflug, zur Oranienstraße. Über dem Kiezkulturtempel SO36 ein umwölkter Eiermond. Der Pilot schiebt sich in den Saal, wo das Tanztee-Ereignis Cafe Fatal seinem Varietè-Höhepunkt zustrebt. „Willkommen in eurem Wohnzimmer!“, ruft die Moderatorin nabelfrei. An den Wänden sternverzierte Fahnen: „Schlagerkarussell.“ Auftritt der zwei Steppinskis, die eine lang und blond, die andere schwarz und kurz. Sie kommen von einem Volkstanzkurs in Birkenwerder. Und steppen zum Ragtime. Sie kostümieren sich für ein Cowboy-Musical. Sie schwofen mit Ledermini und wehender Mähne durch die souligen sechziger Jahre. Sie hopsen und blödeln gutgelaunt, bis das Tanztee-Publikum johlt. Am Saaleingang wird laut palavert; die unverwüstlichen Bühnentiere witzeln gegen die Brandung an. „Macht euch eine schöne warme Woche!“, ruft die Moderatorin. Die Tanzfläche füllt sich sofort. Männer tanzen mit Männern, oder Frauen. Frauen tanzen mit Frauen, oder Männern. Man zeigt Glatze und Schnäuzer, Muskeln und Zärtlichkeit. Hier darf gebalzt und exerziert, geknutscht, gequasselt werden. Hier trägt man T-Shirt oder Schlips, hier walzt man locker oder wie auf Eiern, hier regiert die vitale Toleranz. „Immer wieder sonntags – kommt die Erinnerung.“ Hier singt man mit und küsst beim Begrüßen vorzugsweise den Mund. Ein paar triste Paare starren blind, wie im Hetero-Eheknast, hinweg über den Paarungswildwechsel auf die Lomossonow-Versuchsanordnung aus Reibung und Wärme. Schnulzenbeschwingt steigen die ersten Tänzer auf die Bühne. Vorbei an einem „Fickt Schafe“-Aufkleber, der wohl von Tierschützern halb abgerissen wurde, trollt sich der Pilot in die kleine Bar mit dem Fenster zur Oranienstraße. Weiße Lilien auf der Theke. „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten/die gute Laune muss der Mensch behüten/ein bisschen Tschinderaassassa und Bumsfalderara.“ Der Barmann wechselt die CD. Es gibt Frozen Erdbeer Margharita. Hildegard Knef – seit fast einem Jahr tot und längst unsterblich – singt ihren Klassiker vom Koffer, den sie noch immer in Berlin hat. „Die Seligkeiten vergangner Zeiten sind alle noch in diesem kleinen Koffer drin.“ Heimatgefühle.

Museum Mitte von Berlin, Am Festungsgraben 1, Tel. 2084000. – Passionskirche, Marheinekeplatz 1, Tel. 69401241. – SO36, Oranienstr. 190, Tel. 61401306.

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