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Kultur: Elfen sehen

Eine Liebe der besonderen Art: „Mein erstes Wunder“ von Anne Wild

Das könnte alles ganz böse ausgehen. Kleines Mädchen auf hoher Schaukel am Meer, kleine Nixe auf Zeit auch, die unheimlich lange tauchen kann – man kennt das, aus dem Kino. Oder: Alter Schwabbelmann macht sich an Nixenmädchen ran, irgend so’n Dickmensch, der nicht ganz richtig tickt nicht erst seit seinen irgendwie reiferen Jahren – man kennt das, aus der Zeitung: Missbrauch, Mord, Sicherungsverwahrung. Oder: Verheulte Mütter, ihr Stammeln, wenn alles zu spät ist, „was habe ich nur falsch gemacht?“ – ja, auch das kennt man, aus dem Fernsehen. Ganz ganz furchtbar, das.

Der Film hat solche Stellen, vor allem zu Beginn. Er stellt solche Stellen hin wie Wahrnehmungsverkehrsschilder, er testet unsere Treue zur StVO, zur Standardvisionsordnung, oder vielleicht testet er auch nur unsere Routine. Aber er biegt auch ab, von Anfang an. Er lässt es nicht zum Äußersten kommen, sondern zum Innersten, und das ist bekanntlich viel schlimmer. Es geht also nicht gut aus, aber nicht so, wie Sie denken. Es geht aber auch nicht wirklich schlecht aus – schon recht, die Schilderschriftzeichen werden undeutlich mit der Zeit. Oder sagen wir so: Der Film balanciert wie ein großes Kind auf dem Geländer einer Seebrücke, hier die harten Planken, dort das Meer. Und stürzt und stürzt einfach nicht ab.

Also gut: Es geht um eine Art Liebe. Die junge Regisseurin Anne Wild schreibt vor den Abspann „Für meine große Liebe“, und das ist ein Ausrufezeichen, das man wahrscheinlich gar nicht unwörtlich genug nehmen kann. Wirbt der Film für diese Liebe, für das, was er „Mein erstes Wunder“ nennt? Ja und nein. Nein, weil er die Welt nicht aussperrt aus ihr, weil er keine billige Kritik der alltagspraktischen Vernunft betreibt, sondern sie so zu Wort kommen lässt, wie sie zu Wort kommen muss. Und ja, weil er dieser Liebe eine stille Wucht gibt, weil er sie implodieren lässt, weil er die große Mitte des Lebens einkreist und umstellt durch zwei, die zu jung und zu alt für sie sind, alte Kinder beide auf fast schon wieder ähnliche Weise. Keine Lolita und kein Humbert Humbert, nein, diese Geschichte kriegen Sie nicht. Nicht diese.

Dole heißt sie und ist elf. Hermann heißt er und hat schütteres graues Haar und spielt mit seinen drei Kindern am Ostseestrand Sandschiffchen, ein Campingplatz- und Gartengrillspießer, wie er im Buche unserer Vorurteile steht. Und Dole, die verzogene Einzeltochter der berufstätigen, alleinerziehenden Sehr-Allein-Frau Franziska (Juliane Köhler) lernt Hermann in diesen deutschen Sommerferien kennen, und das Licht ist fast elektrisch weiß, die Sonne eine Höhensonne, kalt und fern. Mama Franziska will die Ferien eigentlich ihrem Blondie von neuem Lover widmen und hat keine Zeit für Dole. Hermann wiederum, der Dreikinderpapa, ist mit der Welt und seiner Frau Margot irgendwie verbunden und irgendwie auch nicht. Und so nimmt, sollte man jetzt schreiben, das Unheil seinen Lauf.

Auf dem Grund des Lebens

Und nimmt es nicht. Dole und Hermann können nämlich Elfen sehen. Hermann redet wie einer, der seine Kinderfantasie nicht ordentlich weggeparkt hat ins Schließfach seines Haarmittel-Werbeköfferchens, mit dem er übers Jahr unterwegs ist; er quatscht von Meereselfen in der schlierig algigen Ostsee, und Dole nimmt ihn beim Wort und taucht ab. Dole, elf, sieht Elfen – oder ist sie selber eine? Ist sie die Elfe, die den alten Mann auf den Grund seines bodenlosen Lebens zieht? Eines Tages steht sie vor seiner Tür, die Ferien sind schon ein paar Wochen vorbei, und sagt: „Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Nichts von dem hier wird bleiben.“

Hier könnte die schmutzige Lolita-Geschichte beginnen. Aber Dole, vaterlos wie Lolita, findet in Hermann keinen Mann, der sie benutzt und den sie, die Zernutzte, rachehalber benutzt; Dole sucht und findet sich selber. Und Hermann, ein Schwächling wie Humbert Humbert, geht im Schlepp dieses Mädchens davon, und wenn seine Stimme doch einmal dunkel und brüchig vor Begehren wird, dann taucht auch er, Tolpatsch von Elferich, nur nach dem tief verschütteten Begehren, er selber zu sein. Ja, der tut nichts, der will nur spielen; der tut wirklich nichts, und dann ist das Spiel aus und Hermann, der Endvierziger, wird erwachsen für eine Sekunde in seinem Leben und allein.

Man kann in diesem Film, der sich wie schaukelnd erzählt – im Geschehen und in der Suche zweier verlassener Frauen nach diesem Geschehen – , herumgehen wie in einer Seelenlandschaft mit Traumstimmen, asynchron zu den Gesichtern, zu denen sie gehören. Man darf stehenbleiben in winzigen Situationen, einer Szene etwa zwischen Franziska und ihrem Freund, die auch ihr Glück, ihr erwachsenes, haben sollen, après l’amour l’après-midi; oder da ist die Szene im Auto, es regnet leicht, Franziska fragt Margot nach ihren Anfängen mit Hermann, und Margot antwortet mit einem wundersamen Lächeln, aber das muss man schon erhaschen zwischen zwei Intervallscheibenwischerwegen. Nein, in diesem Film verliert niemand seine Unschuld. Und Erwachsene, zweites Wunder, gewinnen sie zurück.

Die vier Schauspieler – Juliane Köhler und Gabriele Maria Schmeide als die beiden Mamas, Leonard Lansink als einsamer Papa und allen voran Henriette Confurius, das einzige echte Kind – machen ihre Sache traumsicher und schön; meist unterspielen sie die Geschichte, und wenn sie dann doch mal spielen, vor allem die Frauen, dann mit feinen Anführungszeichen. Aber der Film gehört ja Leonard Lansink, dem Wuselpapa, dem Fotomaton-Gesicht, das plötzlich zu sich kommt, und wir meinen, es nicht wiederzuerkennen, so jenseits seiner Stille; und natürlich Henriette Confurius. Das Fabelwesen dieses Märchens hat einen großen Weg im Kino vor sich, es sei denn, es wird anderweitig erwachsen, man kennt das.

Alhambra, Central, Filmkunst 66,

Kulturbrauerei

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