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Carter

© The New York Times/Redux/Laif

Elliott Carter: Der Kopf und die Noten

Verschiedene Rhythmen und Geschwindigkeiten prallen aufeinander, heftig, chaotisch: Elliott Carters Musik galt lange als skandalös, heute wird sie an Hochschulen gelehrt. Nun wird der stetigste und leiseste Komponist Amerikas 100 Jahre alt – und ist produktiv wie nie.

Der Jubilar nimmt sich die Zeit und denkt über manche Fragen gerne länger nach. Was seine früheste Erinnerung sei, will die Reporterin wissen. Elliott Carter schlägt die sehr schmalen, sehr feingliedrigen Hände vors Gesicht und sinniert. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Er habe, wird er später sagen, viele Bilder im Kopf, von Ereignissen, von Begegnungen, aber wenig dazugehörige Zahlen, das mache die Sache mit dem Gedächtnis schwierig. Dreiundzwanzig, vierundzwa …

Plötzlich richtet er sich auf und strahlt mit der gerade über Tribeca und dem Financial District untergehenden Wintersonne um die Wette: „Pick, pick!“ Die Besucherin versteht nicht ganz. Carter wird deutlicher, als müsse er einem besonders begriffsstutzigen Musiker eine besonders komplizierte Stelle in einer seiner ohnehin ziemlich komplizierten Partituren erklären und klopft dazu im Staccato-Rhythmus mit dem rechten Zeigefinger auf den linken Handrücken: „Ich spüre noch ganz genau, wie mich ein Huhn als Kind in die Hand gepickt hat. Es tat nicht wirklich weh, aber Angst hatte ich. Da war ich drei oder vier Jahre alt.“

Triumph blitzt aus zwei wachen, hellen Äuglein. Der alte Herr ist zweifellos eine Schönheit: feine, fast kindlich zarte Züge, schneeweißes Haar, ein lachender Mund. Verschmitzt würde man dieses Antlitz nennen oder auch: listig, lustig, glücklich. Etwas schmächtiger ist Carter in seinem 100. Jahr geworden, auch sind die Wangen nicht mehr ganz so rosig, so voll. Streichelweich muss sich eine solche Haut anfühlen, die sich aller Furchen und Runzeln, aller Sorgenfalten längst entledigt hat.

Wir schreiben also das Jahr 1911 oder 1912, New York City. Hier wurde Elliott Cook Carter am 11. Dezember 1908 geboren, hier verbringt er sein Leben. Er ist der New Yorker unter den amerikanischen Komponisten des 20. (und 21.!) Jahrhunderts und der unamerikanischste, stetigste, leiseste dazu. Ein unermüdlicher Arbeiter, der von seiner Kunst bis heute leben kann – ganz ohne die Happenings eines John Cage oder die Autismen eines Conlon Nancarrow. In die Wiege gelegt wird Carter dieses Schicksal nicht. Der Vater macht erfolgreich in Spitzen und anderen Nobel-Textilien: „Er war kein gebildeter Mann, Strawinskys ,Sacre du Printemps’ beispielsweise hielt er für das Werk eines Verrückten. Und die Musik seines Sohnes hat ihn nie interessiert. Trotzdem sind meine Eltern und ich Freunde geblieben.“

Strawinskys „Sacre“ ist das musikalische Erweckungserlebnis des jungen Carter. Er hört das Stück, das zehn Jahre zuvor in Paris einen der beispiellosesten Skandale der abendländischen Musikgeschichte entfesselt, 1923 in der New Yorker Carnegie Hall, am Pult steht der Uraufführungsdirigent Pierre Monteux: „Das war das Kühnste, Tollste, Aufregendste, was mir je zu Ohren gekommen war. Das wollte ich auch!“ 15 ist er da und soll den väterlichen Betrieb übernehmen. Der geht kurz darauf pleite, was den Sohn nach Harvard bringt, er studiert Literaturwissenschaften, Mathematik, Alt-Griechisch und Philosophie – und wird am Ende doch Komponist. Einer Tante war früh aufgefallen, dass Klein-Elliott, obwohl er noch nicht lesen kann, zu jeder Schallplattenhülle die richtige Musik singt. Sie lässt eine Meldung in die Zeitung setzen. „Leider finde ich diesen Ausschnitt nicht mehr. Ich bin kein sehr ordentlicher oder organisierter Mensch, Sie sehen es ja …“

Bücher, Noten, CDs, Kataloge auf zerbeulten Sofas und überladenen Tischen, an den Wänden klassische Moderne, darunter mindestens ein Klee, und auf Kommoden und Konsolen die Skulpturen seiner Frau, der Bildhauerin Helen Jones Carter. Schlichte, innige Büsten und Gestalten aus Stein. Sie, ein Jahr älter als er, starb 2003 nach schwerer Krankheit, er hat sie gepflegt und lebt heute in dem Glauben, sie sei bereits seit zehn Jahren tot. Einsamkeit dehnt die Zeit.

Seit 1945 lebt Elliott Carter im einstigen Künstlerviertel Greenwich Village, achter Stock, ein Backsteinbau, glänzend lackierte Holztüren, ein ächzender Fahrstuhl. Vom Fenster seines Arbeitszimmers aus – und das ist nur eine Metapher für seine Jahrhundertzeugenschaft! – verfolgt der Komponist am 11. September 2001, wie die Türme des World Trade Center qualmen. Nicht dass er die Flugzeuge der Terroristen hat fliegen sehen oder Menschen aus den Fenstern springen, aber unheimlich ist dem damals 92-Jährigen die Sache sofort: „Ich wusste, es ist etwas Grauenhaftes passiert.“

Der Künstler in seiner Loge, mit Blick auf die Welt? „Ach, wissen Sie, Musik hat keine politischen Konsequenzen, das sicher nicht. Aber sie kann uns glücklich machen mit uns selbst. Sie gibt uns das Gefühl, lebendig zu sein.“ Die Definition eines bekennenden Wolkenkuckucks heimbewohners, und vielleicht wird man ja nur so alt, wenn man eine reine Seele hat und gewisse Realitäten meidet?

Auch die zweite Begebenheit, die dem Maestro in Sachen Ersterinnerung einfällt, hat allerdings ihren Reiz. Überhaupt lieben Carter-Gespräche das Elliptische: Denkt man, er habe eine Frage nicht verstanden oder es fiele ihm dazu nichts ein (Hörgeräte können ein Segen sein), kommt er garantiert darauf zurück. Draußen dämmert es, in der Küche klappert die Haushälterin mit den Töpfen. Der Komponist bittet die Reporterin, das Licht anzuknipsen, und da amerikanische Schalter an amerikanischen Stehlampen mehr zum Drehen sind als zum Drücken oder Kippen, dauert es ein Weilchen, bis es hell wird.

Carter spricht ungehindert weiter ins Dunkle. Am Tag, als der Erste Weltkrieg ausbricht („Das muss um 1914/15 herum gewesen sein, ja?“), fällt dem Fünfjährigen ein Goldfischglas herunter. Das Wasser, die Scherben, die zappelnden Fischlein, das sieht er vor seinem inneren Auge noch ganz genau. Was mit diesem Tag alles zu Bruch geht, ahnt er nicht, ebenso wie die Kriegsschiffe auf dem Hudson River ihn wenig später mehr erregen als erschrecken.

Das einzige wirklich „politische“ Werk, das Carter später komponiert, bezieht sich auf die Befreiung von Paris durch alliierte Truppen im Juni 1944. Eine Partitur für großes Orchester, kaum zehn Minuten lang, in dem erstmals, was für ihn später typisch werden soll, verschiedene Rhythmen und Geschwindigkeiten aufeinanderprallen. Das klingt trotz aller Jazz- und Folk-Zitate heftig, chaotisch, als sei dem Dirigenten der Taktstock aus der Hand gefallen und tröteten die Musiker munter drauf los. In Wahrheit ist das Ganze natürlich höchst komplex. Der Titel? „Holiday Ouvertüre“: Ferien, endlich Ferien von den Nazis. Humor, sagt Elliott Carter, sei eine Notwendigkeit im Leben. Und in der Musik, in der sich so selten einer zu lachen traut? „Na, da sowieso.“ Wobei es sehr interessante neue Musik gebe, die absolut humorlos sei, fügt er hinzu und freut sich an seinem Schalk.

90 Titel umfasst Carters aktuelles Werkverzeichnis, ein Ende ist nicht abzusehen. Nicht dass ein Künstler die 100 Jahre erreicht, ist in seinem Fall also das Bemerkenswerte (daran wird die Welt sich gewöhnen müssen), sondern die Tatsache, dass er 100-jährig aus dem Vollbesitz seiner Konzentration und geistigen Kraft schöpft. Und mehr noch: Ein gutes Drittel des Carter’schen Oeuvres ist überhaupt erst im Laufe der letzten zehn Jahre entstanden, darunter Hauptwerke wie seine einzige Oper „What next?“ (uraufgeführt 1999 an der Berliner Staatsoper), das Cello- und das Horn-Konzert oder sein Klarinetten-Quintett.

Die Frage nach dem Tod jedenfalls irritiert Carter. Selbstvergessen greift er nach seinem Stock, streichelt den Griff. Dann ein Seufzer: „Ich denke eigentlich nie darüber nach. Im Tod geht doch nur etwas zu Ende, als wenn neben uns eine Blume verblüht.“

Wie wird man so alt und bleibt so gesund? Was sind Ihre nächsten Pläne? Wo steht die amerikanische Musik im 21. Jahrhundert? Was wünschen Sie sich zum Geburtstag? Immer wieder sind Elliott Carter in den vergangenen Wochen und Monaten die gleichen Fragen gestellt worden – und er, dem kaum je so viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, hat darauf nur eine Antwort: Er denke nicht groß übers Komponieren oder über andere Komponisten nach, sondern schreibe einfach die Musik, die er schreiben wolle. Er, der den einen zu neoklassizistisch, den anderen zu schwierig und den dritten irgendwie zu konventionell ist. Das ganze Gerede von „Schaffensphasen“ und ästhetischen Haken, die er geschlagen habe, der Maestro macht eine verächtliche Handbewegung – „rubbish“.

Ein einziges Mal im Leben braucht er die Wüste, neun Monate Auszeit in Arizona, um zu sich selbst zu finden. 1950/51 war das. Und dann nie wieder.

Gerade entdeckt er übrigens die Miniatur für sich. Hier ein Mezzosopran-Solo von zwei Minuten („La Musique“), dort etwas Kleines für die Oboe: „Ich habe keine Geduld mehr für längere Sachen. Ich muss schnell fertig werden.“

Länger als eine Dreiviertelstunde freilich sind Carters Kompositionen nie, die „Symphonia“ von 1996 hat dieses Maximalmaß, ebenso die Oper und sein so wichtiges erstes Streichquartett von 1950. Das heißt: Der Konzert- und Festivalbetrieb zwischen New York, Berlin, London und Tanglewood muss sich immer noch etwas anderes dazu ausdenken. Carters Stücke wollen nicht allein sein, provozieren von allem Anfang an ein Miteinander, den Dialog, ja, wenn man so will: das Soziale im Exzentrischen.

Über seine lange als skandalös geltende Cello-Sonate von 1948 – heute wird sie an Hochschulen gelehrt – schreibt Elliott Carter einmal, der Cellist solle hier Schönberg spielen und der Pianist Strawinsky. Das ist, als drückte man einem Tenniscrack einen Baseballschläger in die Hand. Nichts charakterisiert das Phänomen Carter, den Wechsler zwischen den Welten, besser. Er studiert bei der konservativen Nadia Boulanger in Paris, plaudert mit Paul Valéry und bewundert Charles Ives; er sitzt während der amerikanischen Erstaufführung von Alban Bergs „Wozzeck“ ausgerechnet neben George Gershwin (und sieht ihn nie wieder): Er abonniert als Harvard-Student den deutschen „Simplicissimus“; und er beobachtet in den 60er Jahren in einem New Yorker Restaurant, wie sein Freund Igor Strawinsky, der nie Autogramme gab, Frank Sinatra höchst umständlich eines schreibt, ja förmlich malt.

Niemals aber käme Elliott Carter auf die Idee, weder im Leben noch in der Musik, diese Extreme miteinander zu versöhnen. Er schafft keine Synthesen, sondern hält die Gegensätze aus. Das ist das Unamerikanische an ihm. Dieser Erfahrung verdankt er das Licht, den freundlichen Glanz in seinem Gesicht.

Was er tue, wenn er nicht komponiere, will die Reporterin wissen. „Ich lese Bücher, die ich schon kenne. Am liebsten Shakespeare oder Novellen von Balzac. Da spielt ja auch gelegentlich mein Freund Guillaume Dupuytren eine Rolle.“ Elliott Carter feixt und zeigt seine Hände. An mehreren Fingern sind die Sehnen stark verdickt und verkürzt, die sogenannte Dupuytren’sche Erkrankung, eine Wucherung des Bindegewebes. Für Musiker, für Pianisten eine Katastrophe. Aber wie komponiert man ohne Klavier?

Statt einer Antwort bittet Carter ins Arbeitszimmer. Hier stehen der verwaiste Flügel und ein wiederum reichlich überladener, kleiner Schreibtisch. „Es gibt Menschen, die machen bei mir Ordnung, und dann finde ich nichts mehr“, murmelt er und zieht ein Din-A -4-Blatt hervor. Darauf drei selbst gezogene Notensysteme, ganz kurz nur, wie hingeworfen, ein paar Textfetzen in Bleistift, die Noten mal schwarz, mal rot, krakelig. „Im Morgengrauen bleibe ich gern noch ein bisschen liegen. Das ist meine Inspiration. Und dann stehe ich auf und notiere, was ich an Musik im Kopf habe. Ganz einfach.“ Das Blatt nimmt er gleich wieder an sich. „Jetzt haben wir alles gesagt, was zu sagen ist, nicht wahr?“

Aus der Küche duftet es nach Truthahn, es ist Thanksgiving. Der Jubilar geleitet die Besucherin zur Tür, er lächelt sein hinreißendes Silberlächeln und legt den Kopf ein wenig schief: „Grüßen Sie Berlin! Und über den Tod werde ich nachdenken, versprochen. Aber das Wunder ist doch das Leben.“

Christine Lemke-Matwey[New York]

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