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Recht und Pflicht. Kinder stehen unter dem Schutz der elterlichen Sorge oder anderer „Personensorgeberechtigter“. Dabei werden auch Werte weitergegeben.

© picture-alliance/ dpa

Elternpflichten vs. Kinderrechte: Was uns das Beschneidungs-Urteil lehrt

Erwachsene sind die bestimmende Macht über Minderjährige. Aber wo sind die Grenzen dessen, was sie verfügen dürfen? Auch darum geht es in der Debatte um das Beschneidungs-Urteil.

Von Caroline Fetscher

Es ging in die Ferien. Wir Kinder drängten uns zu dritt auf dem Rücksitz des Autos, vorn hielt die Mutter die Landkarte und der Vater das Steuer in Händen. Von Hessen bis an die dalmatinische Küste mussten mehr als 1500 Kilometer bewältigt werden, das Heck des Wagens war rappelvoll mit Koffern, Spielsachen, Schwimmringen, Reiseschreibmaschine, Strandtaschen. Es war heiß. Nach einer knappen halben Stunde erkundigt sich der Siebenjährige: „Wann sind wir da, Papi?“ Wie soll Papi das erklären? „Es ist noch weeeeit!“ Spät am Abend wurde irgendwo übernachtet, am anderen Morgen ging es weiter.

Zwei Tage eingequetscht auf der Rückbank eines Wagens, ist das keine Zumutung für kleine Kinder? Das ist wie Freiheitsberaubung – Einschränkung des physischen Bewegungsraums, der Motorik, der Selbstwirksamkeit, Wegfall des gewohnten Umfelds. Na klar, es war eine Zumutung für die Kinder. Aber die Ferien waren klasse. Alle wollten im Jahr darauf wieder ans Meer.

Wie, wann und warum sind Strapazen für Kinder, sind Eingriffe in das Leben von Kindern zumutbar, wie, wann und warum sind sie es nicht? Wo sind die Grenzen? Wer definiert sie? Darum geht es unter anderem bei der aktuellen Debatte über das Urteil zur Beschneidung jüdischer und muslimischer Jungen im Säuglings- oder Kindesalter. Löst man sich von der aktuellen Fixierung auf die Frage der Beschneidung, öffnet sich womöglich ein nichtideologischer Horizont, der das Verhältnis von Staat und Kindeswohl klarer einordnen hilft.

In jeder Kindheit halten Erwachsene das Steuer, sie geben die Richtung an. Ihnen gehört die Landkarte, sie können sie lesen. Daran wird sich kaum je etwas ändern, egal wie die Gesellschaft und ihre Rechtslage verfasst sind. Insbesondere die frühen Phasen der Minderjährigkeit sind, wie der heutige, westliche Gesetzgeber es formuliert, geprägt vom Recht und von der Pflicht der elterlichen Sorge oder der anderer „Personensorgeberechtigter“.

Erwachsene entscheiden, wo und wie Kinder leben, was sie anziehen, wo sie hinziehen, was es für sie zu essen gibt, auf welche Schule sie gehen, mit wem sie spielen, wann sie raus aus dem Haus dürfen, was sie im Fernsehen anschauen, welche Musik sie hören, welche Geschichten ihnen vorgelesen werden, welche Sprache sie sprechen. Die Erwachsenen sind dafür verantwortlich, ob belohnt oder gestraft, kommuniziert oder geschwiegen wird. Sie erklären bestimmte Emotionen, Wörter, Körperregionen oder Speisen für schlecht und verboten, andere für gut und erlaubt. Kurz, sie entscheiden, welche symbolische Ordnung sozialer, religiöser, ideologischer oder anderer Art die Kinder umgibt. Wenn Eltern oder andere Agenten der primären Sozialisation an Götter, oder Drachen glauben, an Himmel oder Hölle, an Jesus oder Allah, an Ufos oder Sternzeichen – das Kind wird es erfahren und zunächst für richtig halten, für richtig halten müssen. Denn der frühe, kindliche Kosmos ist von noch wenig anderem erfüllt als vom Umfeld der weltlichen Machthaber, in deren Obhut es sich findet. Deren Kosmos ist für das Kind die Welt. Sich aus diesem Schutzraum zu entfernen, sich gegen ihn zu stemmen wäre existenziell bedrohlich, denn eine eigene Landkarte fehlt noch. Und ohne die Nähe der Älteren fehlen auch Nahrung, Obdach, Ansprache. Kein Ich oder Selbst könnte sich entwickeln, wären Kleinkinder ausschließlich aufeinander angewiesen. Das stattet Erwachsene mit einer enormen Machtfülle aus, die sie in anderen Sphären ihres Lebens womöglich nie haben oder hatten.

Früher waren Kinder wie Leibeigene. Heute erkennt man sie als autonome Menschen an.

Je mehr die Erwachsenen einer Familie oder Gruppe daran interessiert sind, dass die transgenerationelle Weitergabe bestimmter Muster gelingt – etwa Verhalten, Glaube, Bildung, Geschmack, ökonomischer Sinn, familiäre Kohäsion –, desto eher werden sie versuchen, die Nachwachsenden auf ihre Linie zu bringen oder zu zwingen. Im Interesse der Selbstrekrutierung der Milieus werden so Schutzversprechen mit Machtmechanismen verknüpft.

Zu solchen Prozessen gehören, nicht nur in archaischen Gesellschaften, formelle oder informelle rites de passage, Aufnahme- und Übergangsrituale, die das Band der Generationen festigen sollen. Das kann die Kommunion ebenso sein wie das erste Rockkonzert oder die erste große Demo an der Seite von Mutter oder Vater. Je kleiner ein Kind, desto weniger kann es begreifen, dass sich hinter der Weltsicht der Älteren ein historisch gewordenes, sozial, ökonomisch und medial geprägtes System befindet, in dem die Älteren ihrerseits den Einflüssen und Einflößungen ganzer Gruppen oder Teilgruppen unterliegen.

Elternschaft wurde über Jahrhunderte und länger als die unanfechtbare Lizenz dazu interpretiert, mit dem eigenen Kind wie in einer Art Leibeigenschaft nach Belieben umgehen zu dürfen. Dass Patriarchen über Minderjährige ähnlich verfügen konnten wie über Viehbesitz, Ehefrauen und Gesinde, ist auch in Westeuropa historisch noch nicht lange her – und in zahlreichen Staaten der Erde ist es immer noch Usus. Empathie mit kindlichem Empfinden, Rücksicht auf Ängste und Bedürfnisse von Menschen in der frühen Entwicklung, sind erst da möglich, wo Kinder als autonome Menschen erkannt, besser noch: als Rechtssubjekte verstanden und behandelt werden.

Jede Kindheit spielt sich notgedrungen gewissermaßen im Kolonialgebiet der Älteren ab, die die Metropole darstellen, daran ist auch in unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit in vielen Aspekten kaum zu rütteln. Und darauf ob Eltern – und damit ihre Kinder – zu Hause Mozart oder Madonna hören, ob sie lesen oder sich durch Youtube klicken, wird wohl weiterhin von außerhalb des privaten Raumes kein direkter Einfluss genommen werden können.

In westlichen Demokratien hat das Kind inzwischen weitgehend einen Rechtsstatus als Subjekt gewonnen. Es darf in Deutschland zum Beispiel nicht eingesperrt oder ausgesperrt, physisch verletzt, gezüchtigt oder gedemütigt werden; allesamt Vorgänge, die Erwachsene der vorigen Generationen selbstverständlich fanden. Mit der expliziten Ausdehnung der Menschenrechte auf das Kind – wie zuvor auf die Frau – haben sich die rechtlichen und sozialen Positionen von Erwachsenen und Minderjährigen dramatisch verändert. Im Lauf der jüngsten Jahrzehnte haben die meisten westeuropäische Gesetzgeber die Parameter, innerhalb derer Sorge und Recht verhandelt werden, variiert, eingeschränkt und neu ausgestaltet.

Schon die Schulpflicht bedeutete ja einen gravierenden Eingriff in die traditionellen „Rechte“ von Eltern. Home schooling, in einigen Ländern erlaubt, ist in Deutschland nicht gestattet. So können etwa evangelikale oder neonazistische Eltern nicht erzwingen, dass ihre Kinder ausschließlich mit ihrem eigenen ideologischen Klima konfrontiert werden. Zum staatlichen Katalog zählen heute auch mehr oder minder verbindliche gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen von Babys und Kindern, eine Praxis, die in den Kontext der genannten Unterlassungspflichten hinsichtlich physischer und psychischer Verletzung und Verwahrlosung gehört.

Übernimmt der Staat zunehmend die Elternrolle?

Überall will der Gesetzgeber reinreden! Eltern werden vom Staat ihrer Rechte beraubt! So tönte es jahrzehntelang, insbesondere bei CDU und CSU, als die Abschaffung des „Züchtigungsrechts“ debattiert wurde. Wenn aber doch der Herrgott den Eltern befiehlt, die Rute nicht zu sparen? Ist dann bei einem Verbot nicht die Religionsfreiheit angegriffen?

So ist es. Wo strikte, konservative Gläubige gleich welcher Konfession ihre Schriften so auslegen, dass Kindern Gewalt angetan werden darf, schiebt das Gesetz einen Riegel vor. Denn der Staat hat über das Kindeswohl ein Wächteramt – das ist Gesetz.

Aber „der Gesetzgeber“ als Kollektivsingular ist als Begriff in der Debatte ähnlich irreführend wie „der Staat“. Beide Instanzen repräsentieren in Demokratien keinesfalls anonyme Akteure, ihre Handlungen und Regelwerke spiegeln vielmehr eine oft langwierige, komplexe, gesellschaftliche Entscheidungsfindung wider. Am Gesetz zum Gewaltverbot gegen Kinder haben über Jahrzehnte tausende Stimmen mitgewirkt. Mediziner, Richter, Rechtspsychologen, Neurophysiologen, Soziologen, Kinderschützer, Schulexperten, Eltern und ehemalige Opfer elterlicher Gewalt verhalfen einem Gesetz zum Durchbruch, das physische und psychische Gewalt gegen Kinder als das definiert, was sie ist: traumatisierende Verletzung.

Insbesondere Körperverletzung an Kindern ist klar definiert: Alles, was nicht im Sinne der Gesundheit oder der Sicherheit des Kindes geschieht, alles was ihm wissentlich und willentlich Schmerzen zufügt und die physische Integrität des Kindes ohne medizinische Indikation angreift, ist Körperverletzung, ganz gleich, welche Rationalisierung dafür ins Feld geführt wird. Daher fallen weder Impfung noch Schulpflicht in diese Kategorie, auch nicht das Anziehen einer Winterjacke in der Kälte bei einem widerstrebenden Kind oder das Mitnehmen von Kindern auf die lange Bahnfahrt zur Oma. So sind die Grenzen für die, die in der Kindheit am Steuer sitzen und die Landkarte in der Hand haben im Kolonialgebiet der Kindheit, eindeutig abgesteckt.

Entscheiden Volljährige bewusst, ob sie Tätowierungen, Piercings, eine Beschneidung, kosmetische Korrekturen oder andere, schmerzhafte, irreversible Eingriffe an sich vornehmen lassen, ist das ethisch und juristisch eine andere Causa. Denn dann sind sie selber am Steuer, navigieren nach ihrer eigenen Landkarte. Sofern sie sich dabei nicht existenziell gefährden, geht das die Gesellschaft nichts an.

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