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Zwei Berufe, zwei Pässe: Emine Sevgi Özdamar ist Schauspielerin und Schriftstellerin und besitzt einen deutschen und einen türkischen Pass.

© Thilo Rückeis

Emine Sevgi Özdamar über 50 deutsch-türkische Jahre: "Gute Arbeit, zwei Freunde, dann kannst du überall leben"

Sprachen, Liebhaber und das typisch Deutsche im Gesicht junger Migranten: die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar über 50 deutsch-türkische Jahre.

Sie sind eine deutsche Schriftstellerin. Vor mehr als vierzig Jahren waren Sie einmal eine typische türkische Gastarbeiterin: Großstädterin aus Istanbul, ziemlich gebildet, weiblich. War Ihnen das klar?

Ich liebe das Wort Gastarbeiter. Ich sehe immer zwei Personen vor mir: eine ist Gast und sitzt da, die andere arbeitet. Ich kam 1965 nach Deutschland wegen meines großen Bruders Ali. Ein sanfter Bruder, den ich sehr liebte. Meine Eltern schickten ihn zum Studium in die Schweiz und ich wollte zu ihm. Aber man konnte nicht ohne Weiteres in die Schweiz. Dann ging die Deutschland-Tür auf. Wie in einem Märchen: Du darfst 39 Zimmer aufmachen, aber das 40. nicht. Doch wenn man das 40. Zimmer nicht aufmacht, geht das Märchen nicht weiter. Deutschland war für mich wie das 40. Zimmer.

Türen kommen in Ihren Texten oft vor. In Ihrem ersten Theaterstück „Karagöz in Alemania“ ist Deutschland nur eine Tür.

Das Stück habe ich damals für das Bochumer Schauspielhaus geschrieben, ein dadaistisches, burleskes Stück. Ein Bauer macht sich mit seinem sprechenden Esel auf den Weg nach Deutschland. Weil der Esel nicht mehr zu arbeiten braucht, entwickelt er sich zum Marxisten. Mich interessierte nicht, was mit den Menschen in Deutschland passiert. Deswegen war Deutschland nur eine Tür. Mich interessierte die Reise von Menschen, die aus ihren Hierarchien heraustreten, in denen die Toten und Alten ganz oben stehen. Bei Kafka habe ich einmal gelesen: Wer ins nächste Dorf reitet, ist ein Held.

Und Sie haben als junges Mädchen die Tür nach Berlin genommen, zu Telefunken?

Ich war ein etwas verrücktes Kind, und auch naiv. Ich war gerade 18 geworden, spielte, seit ich zwölf war, am Theater und wollte in die Schauspielschule. Ich wollte zwei Träume verbinden: meinen Bruder sehen und Theater studieren. So bin ich nach Deutschland gekommen. Meine Mutter war dagegen, dass ich gehe. Bis sie dann las, auch die Tochter der englischen Königin sei als Kindermädchen ins Ausland gegangen – in dem Fall war sie die Königin und ich die Prinzessin.

Im „Karagöz“ lassen Sie das Deutsch-Türkische einmal mit dem Satz parodieren, man müsse den Gastarbeitern für einen Gedicht- oder Kleiderwettbewerb deutsche Stoffe geben – und sehen, wie sie sich daraus türkische Kleider nähen. Sie finden das ganze Gerede um Deutsche und Türken albern, stimmt’s ?

Man sollte die Menschen in Ruhe lassen, die machen dann schon. Sie nennen sich manchmal gegenseitig Kümmel und Kartoffeln, aber das macht nichts. Wie bei einem Liebespaar. Den größten Krach gibt es schließlich in den leidenschaftlichsten Liebesgeschichten. Davor darf man keine Angst haben.

Ärgert es Sie nicht, wenn Sie nach so vielen Jahren Leute noch sagen hören, die Türken seien ja schlimm, aber der eigene Gemüsehändler, der sei doch ganz anders?

Aber die meisten denken und reden nicht so. Und selbst wenn so geredet wird, ist das nicht schon ein Schritt? Zu sagen: Mein Gemüsehändler, der ist ganz anders? Was sollen die Deutschen und Türken machen? Sollen sie sich auf der Straße dreimal morgens und dreimal abends küssen, damit die Medien glauben, dass sie sich mögen? Außerdem frage ich mich, was manche Türken machen würden, wenn es in Istanbul, sagen wir, zwei Millionen pakistanische Arbeiter gäbe. Ich würde lieber mein Land kritisieren.

Lesen Sie auf Seite zwei mehr über ihre Meinung zum deutschen Nationalcharakter.

Welchem Satz über den deutschen Nationalcharakter würden Sie zustimmen?

Brecht sagte, die Kriege – ich weiß nicht mehr, ob die Bauernkriege oder der Dreißigjährige Krieg – waren zu lang. Der Nationalcharakter der Deutschen sei damals zermahlen worden. Wer den Mund aufmachte, fiel als Erster. Zurück blieb eine geduckte Masse. Ich hatte in Deutschland oft das Gefühl, dass man die Menschen in Chöre gesteckt hatte. Aber der Mensch ist ein Star und braucht Starauftritte. Vielleicht spielt auch die Nazizeit und das spätere Beschweigen dieser Zeit eine Rolle dabei.

Wirkt das auch auf das Verhältnis der Deutschen zu Einwanderern?

Die Sprache ist ein großes Problem. Man sagt, die Deutschen haben sich beim Kolonialisieren verspätet. Sie haben sich dafür im eigenen Land Kolonien geschaffen: italienische, spanische, türkische. Aber diese Einwanderer konnten nicht Deutsch. Das ist bei Franzosen und Briten anders. Wenn ein Afrikaner nach Paris kommt, spricht er schon perfekt Französisch. Das Sprachproblem spielt da keine große Rolle. Aber die Deutschen mussten, um mit ihren Ausländern zu kommunizieren, ihre eigene Sprache deformieren, bücken und brechen, über ihre Sprache stolpern. Wenn sie damals einen Weg beschrieben, sagten sie: Du gehen bis Rathaus. Ich treffe manchmal Türken, die perfekt Deutsch sprechen, aber bei Wegbeschreibungen für Deutsche gebrochen reden. Das ist auch ein Stück deutsch-türkischer Geschichte, eine Art Folklore.

Wie haben Sie Deutschland 1965 erlebt? Sie lebten anfangs in einem Wohnheim für türkische Arbeiterinnen.

Ich dachte, ich befinde mich im traditionellen türkischen Theater: Figuren mit unterschiedlichen Dialekten treten auf, keiner versteht den andern, aber sie spielen weiter miteinander. Im Wohnheim in der Stresemannstraße in Kreuzberg lebte ich mit etwa 120 Frauen aus der ganzen Türkei zusammen, türkische Griechinnen, Armenierinnen, schöne, dicke, dünne, Huren, lesbische Frauen. Eine neue Welt. Ich hatte zwei Freundinnen, wir waren die schönsten und neugierigsten. Wir gingen gern tanzen, wir dachten nur an Männer. Die Berliner Tanzlokale waren romantisch wie in einem Film.

Sie waren in Deutschland in der Türkei.

Ja, ich dachte später: Ich bin fast zweitausend Kilometer gefahren, um Türken kennenzulernen. Aber das war nötig. Das hätte ich nie geschafft, wenn ich in den Grenzen meiner Klasse geblieben wäre. Ich kam aus der Mittelklasse, ich hätte in Istanbul keine Huren, sondern nur die Kinder von Ärztinnen und Architekten getroffen. Die Erfahrung fand ich wichtig, übrigens auch die Erfahrung der Fabrikarbeit.

Und wann haben Sie Deutsch gelernt?

Mein Vater gab mir nach sieben Monaten Geld und hat mich ins Goethe-Institut geschickt.

Sie kehrten nach zwei Jahren zurück nach Istanbul, besuchten die Schauspielschule, kamen 1976 aber wieder nach Berlin, diesmal nach Ost-Berlin, und arbeiteten an der Volksbühne. Wie kam das?

Mein Traum war, mit Brechts Schüler Benno Besson zusammenzuarbeiten. Ich traf Besson und sagte ihm: „Herr Besson, ich bin gekommen, um von Ihnen Brecht-Theater zu lernen.“ Er schaute mich an und sagte „Willkommen“. Man sagt, die Zunge hat keine Knochen. Wohin man sie dreht, dorthin dreht sie sich. Ich drehte meine Zunge ins Deutsche und wurde glücklich. Ich wurde seine erste Assistentin und ging nach zwei Jahren mit ihm nach Paris. Hätte er damals Nein gesagt, wäre ich in die Türkei zurückgegangen.

Lesen Sie auf Seite drei mehr über ihre Beziehung zu Deutschland, der Türkei und der DDR.

Warum sind Sie überhaupt weggegangen?

In meiner türkischen Sprache war ich damals sehr unglücklich. Meine Wörter waren krank. 1971 gab es einen Militärputsch. Menschen wurden wegen Wörtern gefoltert, getötet, ins Gefängnis gesteckt. Nur ein Traum konnte mir in dieser schwierigen Zeit helfen. Mir haben damals in Istanbul Brechts Wörter geholfen und eine Utopie versprochen: Großes bleibt nicht groß, Kleines bleibt nicht klein. Brecht hatte vor uns eine körperliche Erfahrung mit dem Faschismus gemacht.

Sie wohnten wieder im Westen. Wie war das für Sie?

West-Berlin war aus Sehnsucht gemacht. Es kamen nur Deutsche dorthin, die nirgendwo anders leben wollten. Eine Sehnsuchtsstadt. Und jeder war hier fremd.

Spürten Sie etwas von der DDR?

Es war klar, dass es die Macht gab, aber das Theater war selbst eine Macht. Und weil die Leute am Theater die Machtverhältnisse gut kannten, konnten sie damit gut spielen, vor sehr guten Zuschauern übrigens. Deswegen hatte das Theater eine tiefe Wirkung, eine Wirkung in die Tiefe.

Sie sind mehrmals gekommen und gegangen. Hatten Sie nie das Gefühl, sich zwischen der Türkei und Deutschland entscheiden zu müssen?

Jeder Ausländer will ja nach einem Jahr zurück und denkt, er müsse sich entscheiden. Es ist so, als müsste man sich unbedingt zwischen Ehemann und Liebhaber entscheiden. Wenn du aber noch einen Liebhaber hast, musst du dich gar nicht entscheiden. Das ist deine Natur. Diese Rolle spielte bei mir Französisch, als ich mit Besson nach Frankreich ging. Später habe ich Spanisch gelernt. Nach dem dritten träumst du nur noch von neuen Liebhabern. Griechisch zum Beispiel.

Liebhaber Nummer eins liebt Sie. Sie sind als Schriftstellerin preisgekrönt, Sie haben den Bachmann-, den Kleist-Preis und viele andere bekommen, Sie wurden in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt gewählt – übrigens als einzige Orientalin in deren Geschichte. Aber ein Star im Literaturbetrieb wie Martin Walser, Günter Grass, Christa Wolf sind Sie nicht. Liegt das vielleicht an Ihrem türkischen Namen?

Die Frage habe ich mir nie gestellt. Die sind auch viel älter als ich und lange in diesem Betrieb. Ich mag sie auch. Ein Buch ist ein Vogel. Du lässt ihn fliegen. Man weiß nicht, welche Fenster sich für ihn öffnen. In Amerika ist mein erster Roman einer der „1001 books you must read before you die“. Neben Camus, Kafka und Thomas Mann. In Amerika ist eben jeder schon lange fremd.

Bei allem Wechsel sind Sie aber doch beständig. Seit Ihrer Rückkehr nach Berlin wohnen Sie wieder in Kreuzberg.

Mein deutscher Mann Karl Kneidl will hier wohnen. Ich sagte mir am Anfang: Kreuzberg ist wie eine schlechte Fotokopie der Türkei. Aber dann habe ich hier einen Tabakhändler mit Perücke kennengelernt, der gerade auf eine neue Niere wartete. Er berührte mein Herz. Eine sinnvolle Arbeit und zwei Freunde brauchst du, dann kannst du überall leben.

Wenn Sie die jungen Türken hier sehen, was denken Sie dann?

Ich hatte mal ein Stipendium für Amsterdam und wollte verstehen, was typisch holländisch ist. Dafür sah ich mir die Gesichter der Ausländer auf den Straßen an. In manchen Gesichtern der jüngeren Generation habe ich das Holländische gesehen. Die dritte Generation nimmt das Wesentliche an. Auch das, was typisch deutsch ist, kann man an den Nichtdeutschen erkennen.

Das Gespräch führten Andrea Dernbach und Katja Reimann. Das Foto machte Thilo Rückeis.

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