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Volles Rohr. Max (Vincent Wolfsteiner) legt ab – und an.

© Gianmarco Bresadola / Drama

Empfohlen ab 16 Jahren: "Der Freischütz": Schlacht in der Wolfsschlucht

Das Zwielicht strahlt: Calixto Bieitos magischer „Freischütz“ an der Komischen Oper beschwört das Tier im Manne.

Wie wäre es denn, anlässlich dieser immerhin mit einer echten Altersbegrenzung versehenen „Freischütz“-Premiere („empfohlen ab 16 Jahren“) als Erstes nach Dresden zu fahren und an Carl Maria von Webers Grab auf dem Alten Katholischen Friedhof ein paar Blümchen niederzulegen? Blümchen des Dankes: für diese vor Intelligenz und Theatersinn nur so sprühende, Innigkeit meißelnde, versunkene Volksseelen weckende, gefährlich in Vergessenheit geratende Musik! Seit Jahren stand einem diese Partitur nicht mehr so plastisch vor Ohren, so aller klanglichen Drolligkeiten und Betulichkeiten entkleidet, so trocken, mürbe und roh.

Das ist, in erster Linie, das Verdienst von Patrick Lange und dem Orchester der Komischen Oper, die gleich in der Ouvertüre ein Spektrum an Farben der Finsternis auflegen, das man kaum für möglich gehalten hätte. Dabei geht es Lange nicht um Licht und Schatten, um die harten Kanten und Scherenschnitteffekte eines „psychologischen Thrillers“ (so der Untertitel des Abends). Vielmehr taucht er – wie auch Rebecca Ringsts auratisches Einheitsbühnenbild – das Ganze ins Zwielicht und in jene Dämmerung kurz vor Einbruch der Dunkelheit, in der nicht mehr der Mensch die Welt betrachtet, sondern die Welt den Menschen. Und Franck Evins meisterliche Lichtgestaltung mit ihren fahlen, gebrochenen Silber- und Bronzetönen verstärkt diese Wahrnehmung noch, weitet sie ins Synästhetische hinein.

Der polternde Jägerchor ist also nicht die Kehrseite des säuselnden „Jungfernkranzes“, und überhaupt existiert hier keine nach konventionellem musikalischem und/oder psychologischem Verständnis irgend heile Fassade mehr, hinter der das Böse brodelte oder Abgründe gähnten. Nein, alles ist Abgrund, ist Angst, Not, Beklemmung und gerade in seiner Selbstverständlichkeit furchtbar. Selbst Agathes Kavatinen verströmen mehr den Geruch von essigsaurer Tonerde als Veilchendüfte (was allerdings auch an der Besetzung mit Ina Kringelborn liegt, die sich in der Partie enorm schwertut). Im Laufe der vier Akte mag Lange nun an Intensität einbüßen, auch fehlt ihm in der Koordination zwischen Bühne und Graben bisweilen die Genauigkeit. Die großen Ensembles aber, das Terzett „Oh, diese Sonne“ aus dem ersten Akt oder das Finale „Schaut, o schaut! Er traf die eig’ne Braut!“, sind ergreifende Höhepunkte, richten sich nicht zuletzt dank des von André Kellinghaus so differenziert und sensibel einstudierten Chores wie klingende Klagemauern auf.

Was das Auge sieht, glaubt nicht nur das Herz, sondern hört auch das Ohr? Das wäre für Calixto Bieitos Inszenierung kein kleines Kompliment. Die Geschichte des glücklosen Max, der seine Liebe zu Agathe mit einem Probeschuss unter Beweis stellen soll und sich in der Nacht davor, in der berüchtigten Wolfsschlucht-Szene, Freikugeln gießen lässt, eine Art romantisches Viagra, um dann doch daneben zu schießen und nur von einem christlichen Deus ex machina und Eremiten noch gerettet zu werden – diese Geschichte von deutscher Sehnsucht und Seele, vom Tier im Manne und Menschen, von Träumen und Trieben (uraufgeführt 1821 im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt) spielt bei Bieito im Wald. Und so trollt sich gleich mit Einsatz der Hörner in der Ouvertüre eine lebensechte Sau über die Szene, herzig schnopernd und schmatzend und hübsch im Gegenlicht. Treiben die Jäger ihre brutalen Spielchen zu Beginn mehr im Unterholz und in knöcheltief raschelndem Herbstlaub, senken sich alsbald kahle Baumstämme aus dem Schnürboden herab: Sinnbild einer sich verfestigenden, ausweglosen Lage. Dass die Stämme nach der Pause kreuz und quer gefällt darniederliegen, ist zwar nicht anders zu erwarten, tut der hoch ästhetischen Magie, der Sogkraft des Raumes aber keinen Abbruch.

Großartig sind die szenischen Übergänge, die der katalanische Regisseur schafft: Wenn Ännchen und Agathe, kaum dass des bösen Kaspars Rachearie den ersten Akt beschlossen hat, mit einer Handvoll Luftballons und im karnevalistischen Miss-Piggy-Outfit (sehr überlegt: das Kostümbild von Ingo Krügler) von weit hinten die Bühne entern, glucksend, kichernd, stolpernd. Auch Junggesellinnenabschiede können blöde sein. Oder wenn das Setting der Wolfsschlucht zunächst nicht mehr verlangt als ein paar schummrige Schnapsflaschenlichter, die Kaspar im Kreis aufstellt. Das Wilde, Monströse, Anti-Zivilisatorische, es wohnt ganz unspektakulär mitten unter uns. Carsten Sabrowskis sonorer Kaspar übrigens gehört neben Günther Papendells fürstlich-wohllautendem Ottokar zu den sängerischen Glanzlichtern des Abends, und das sagt viel über die aktuelle Ensemblepflege an Berlins kleinstem Opernhaus. Das Publikum quittiert’s bei beiden mit dankbaren Bravi am Schluss.

Nun gilt Calixto Bieito spätestens seit seiner Inszenierung von Mozarts „Entführung“ an der Behrenstraße als Regierabauke. Ohne Einsatz von Körpersäften und Exkrementen, ohne abscheuliche Meucheleien geht es selten zur Sache. Dass sich das Drastische schneller verschleißt als alles andere, ist bei Bieito indes schon länger zu beobachten, auch mehren sich die Anzeichen, wie sehr er sich dessen bewusst ist. Sein Berliner „Freischütz“ offenbart die Schwierigkeiten eines solchen Prozesses: Einerseits der eigenen Theatersprache verhaftet zu sein, ja in ihr gefangen – und andererseits deren Häutungen und Metamorphose (noch?) nicht recht kompensieren zu können.

Mit etlichen Nummern kann oder will Bieito, ist die jeweilige dramatische Situation einmal herbeigeführt, schlicht nichts weiter anfangen. Personenregie scheint ihn nicht zu interessieren, als müsse die psychologisierende Glocke, die er über alles stülpt, genügen. Wie wenig befriedigend das ist, zeigt sich an den inszenatorischen Leerstellen, die eine Bravourarie wie Max’ „Durch die Wälder, durch die Auen“ ebenso hinterlässt wie Ännchens beide Arietten, ihr sprichwörtliches Pfeifen im Walde (Vincent Wolfsteiners Stärken zeigen sich dank eines grobkörnigen Tenortimbres mehr im Dramatischen; Julia Giebel hat zwar eine kesse Lache, ist aber zu soubrettig besetzt). Der alte Trick: Man streiche Bühne, Licht, Kostüme – und schon reduziert sich das meiste auf doch recht biedere Gesten und Tableaus. Schade.

Was den Porno- und Schmuddelfaktor der Aufführung betrifft, beschränkt sich dieser weitgehend auf die Wolfsschlucht. Sicher, auch im ersten Akt wird eine Frau zu Tode gehetzt und ausgeweidet wie ein Stück Vieh, doch das vergisst sich wieder. Zur „Schreckensschlucht“ aber schleift Kaspar ein Brautpaar herbei, beide mit verklebten Mündern schrecklich wimmernd, und ein Opferritual beginnt, das es in der Vielschichtigkeit seiner Bedeutungen in sich hat. Die Braut wird rasch geschlachtet, dem Bräutigam schneidet Max später die Gurgel durch, Samiel, der Teufel, kommt klugerweise gar nicht vor (wie auch die von Bieito und der Dramaturgin Bettina Auer erstellte Dialogfassung durch äußerste Knappheit erfreut), Maxens alte Mutter macht rührend die Runde („Mama?“), und das Gießen der Freikugeln besteht darin, dass Kaspar genüsslich sieben blitzende Patronen in die bräutliche Vagina einführt.

Sex and Crime? Männerfantasien, sagt Bieito, sagt die deutsche romantische Oper, beherrschen unsere Wirklichkeit. Oft sind es Versager wie Max, die sie auf die Spitze treiben. Max, der für den Rest des Abends splitterfasernackt zwischen den Baumstämmen herumturnt wie ein zu groß geratenes Wolfskind, und der zum Schluss selbst erschossen wird. Weil kein Eremit, kein Glaube, keine Liebe und keine Hoffnung ihn erlösen kann, solange er es nicht selbst tut. Was für eine Botschaft.

Wieder am 4., 7., 21. und 24. Februar

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