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Kultur: Endlich erwachsen!

Von der Fußballrandale bis zum Elternmord: Die Berliner Kinder- und Jugendtheaterbiennale trifft den Zeitgeist

Oh je. Ausgerechnet „Cyrano de Bergerac“. Was um Gotteswillen soll anno 2003 einen Teenager, dessen Zukunftsängste und soziale Frustrationen man nur mit Grausen erahnt, noch am geschraubt verstaubten Liebesleid dieses großnasigen Poeten interessieren? Wäre nicht alles andere auf der Welt dringlicher, notwendiger, um auf der Bühne eines Jugendtheaters verhandelt zu werden? Denkt man – und täuscht sich damit gründlich. Denn gerade mit diesem uralten Klassiker präsentiert die diesjährige, siebte Kinder- und Jugentheaterbiennale eines der überzeugendsten Plädoyers für die ungebrochene Fähigkeit des Theaters, Antworten zu geben auf die Fragen, die (nicht nur) Jugendliche heute ebenso umtreiben wie vor dreihundert Jahren.

Beherzt hat das Team des Bremer MOKS- Theaters um den Regisseur Klaus Schumacher Rostands Schauspiel auf vier Darsteller und pausenlose anderthalb Stunden gestrafft, alle repräsentative Staffage, allen barocken Ausstattungsplunder über Bord geworfen und damit das allerwichtigste nur umso klarer hervortreten zu lassen – die Sprache. Denn diese Inszenierung schafft spielend, wovon Deutschlehrer kaum mehr zu träumen wagen: die poetische Kunstsprache des Klassischen Theaters ganz gegenwärtig werden zu lassen. Und das durch einen ebenso einfachen wie genialen Kunstgriff: Wenn dem Dichter (überschäumend zärtlich gespielt von Hermann Book) das Herz überfließt, greift er nicht zur Feder, sondern zum Mikro und rappt seine Verse. Nicht durchgängig – das würde schnell nerven – doch eben so lange, bis jedem Zuschauer klar geworden ist, dass dieser Cyrano seine Unfähigkeit, die eigenen Gefühle direkt einzugestehen, ebenso in brillante Spontanreimerei gießt wie der Rapper aus dem Vorstadtviertel. So lange, bis das Bewusstsein dafür geweckt ist, dass die Menschen in diesem Stück eben so und nicht anders reden müssen.

Zehn mustergültige Inszenierungen Deutscher Kinder- und Jugendbühnen aus den letzten zwei Jahren hat das Festival „Augenblick mal“ seit Sonnabend präsentiert. Zehn Inszenierungen, die bei aller Unterschiedlichkeit doch eine wichtige Gemeinsamkeit besitzen: Den Mut, Antworten zu geben.

Vielleicht wird heute der klassische Auftrag des Theaters als humanistische Bildungsanstalt nirgendwo mehr so ernst genommen wie vor einem heranwachsenden Publikum – während die Erwachsenen auf den Staatsbühnen gern mit ironisierender Unverbindlichkeit oder fatalistischem Achselzucken konfrontiert – und verdrossen – werden, sieht sich das Jugendtheater in der Pflicht, klare Fragen zu stellen und Lösungen anzubieten. Und das angesichts eines rapide gestiegenen gesellschaftlichen Konfliktpotenzials, sogar mehr denn je. Ob Flüchtlingsproblematik („Fluchtwege“ vom Potsdamer Hans-Otto-Theater), ob Erfurt („Klamms Krieg“ vom Dresdner Staatsschauspiel), ob Brandstiftung und Elternmord (Marius van Mayenburgs „Feuergesicht“ vom Theater Oberhausen, ob die Ursachen von Gewalt unter Fußballfans („I Furiosi“ vom Staatstheater Stuttgart), ob Selbstmord und Zukunftsangst („Norway.Today“ von den Bühnen Münster) – es geht ernst zu im Jugendtheater. Selbst die Kleinsten werden in dem Stück der niederländischen Erfolgsautorin Susanne van Lohuizen „Von drei alten Männern, die nicht sterben wollten“ (Rheinisches Landestheater Neuss) schon mit der Unausweichlichkeit des Todes konfrontiert, und das auf ebenso anrührende wie feinfühlige Weise.

Denn zu erleben war auch, und sogar noch intensiver als bei den letzten beiden Leistungsschauen, dass die Klarheit der dramatischen Formulierung nicht auf Kosten der Kunst gehen muss. Dass auch im Jugendtheater genug Raum ist für Ungesagtes, für feine Schwebungen zwischen den Akteuren, für ganz zarte, kaum angedeutete Tramwelten. Für die Erkenntnis, dass es für viele Probleme eben keine eindeutige Lösung gibt, und dass man die Welt nicht mit simplen Gut/Böse-Schemata begreifen kann.

Mithin Raum für Kunst jenseits des lediglich Pädagogisch Wertvollen. Mit einer äußersten Gespanntheit der Zentrifugalkräfte Idealismus, Aggression und Resignation prägt etwa Daniel Minetti im Einpersonenstück „Klamms Krieg“ das Porträt eines alten Deutschlehrers, der erleben muss, wie er mit seinen Vorstellungen von Schule und Bildung zusehends isoliert dasteht – in knappen fünfundvierzig Minuten lässt Minetti diese Figur immer wieder ruckartig vom Liebens- ins Hassenswerte umschlagen, reicht ihm die Beschwörung kurzer, altvertrauter und lang vergessener Phrasen, um die Situation des Schauspielers vor Publikum zu der ganz ähnlichen des Lehrers vor der Klasse werden zu lassen.

Das ist nebenbei auch brillant gespielt – fast scheint es ohnehin, als besäße die Jugendtheaterbiennale den Ehrgeiz, die schauspielerische Qualität von Jugendtheater zu demonstrieren. Vielleicht ist es sogar gerade die Mischung aus dem spürbaren Sendungsbewusstsein der Darsteller und ihrem extrem fordernden, gnadenlosen Publikum, die den Aufführungen eine besondere Frische gibt – ein Schauspieler im Jugendtheater kann es sich schlichtweg nicht leisten, die Zügel schleifen zu lassen und die Bühnenspannung herunterzuschrauben. Angesichts der Beschränktheit der Ausstattungsmittel sind Produktionen auch so anspruchsvoller Stücke wie Mayenburgs „Feuergesicht“ zwangsläufig reinstes Schauspielertheater.

Auf so hingebungsvolle, charismatische Darsteller wie den jungen Christian Sengewald, der in „Schnitt ins Fleisch“ vom Thalia Theater Halle, den amoklaufenden Arbeitslosen Slim spielt, müsste jedenfalls jedes Staatsschauspiel stolz sein, und das Zweipersonenstück „Höchste Eisenbahn“ des Theaters Handgemenge kann in der Subtilität, mit der hier eine durch Ersatzhandlungen ritualisierte Männerfreundschaft ausgeleuchtet wird, problemlos als hoch anspruchsvolles Kammerspiel durchgehen.

Womit freilich die Fragwürdigkeit der Genreeinteilung erst recht bewusst wird: Ist Jugendtheater gut, ist es eben auch uneingeschränkt erwachsenentauglich. Stücke wie van Mayenburgs „Feuergesicht“ und Igor Bauersimas „Norway.Today“ lassen sich ohnehin keiner Sparte fest zuordnen, das Stuttgarter „I Furiosi“-Projekt und Vivienne Newports „Fett Frei und Fast Free“ (eine Produktion des Theaters der Jungen Welt Leipzig) knüpfen mit Gruppenchoreografien und tanztheatralischem Ansatz direkt bei den Einflüssen von Berliner Schau- und Volksbühne an.

Erstaunlich ist das nicht. Eher erfreulich, weil mit der Preisgabe eines spezifischen Jugendtheaterstils zugleich die traditionelle Kluft zum Staatstheater und seinem Publikum verringert wird. Und das in beide Richtungen – hoffentlich.

Jörg Königsdorf

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