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Kultur: Engel der Geschichte

Luc Bondys Inszenierung des „König Lear“ triumphiert bei den Wiener Festwochen mit Gert Voss in der Titelrolle

Am Schluss, wenn alle Schlachten des Wahnsinns und der Intrige geschlagen sind, trägt König Lear seine von ihm einst so verhängnisvoll verkannte Lieblingstochter Cordelia tot in den Armen über die Bühne. Um wenig später selbst zu verscheiden. Wie das bei Shakespeare steht, wird es meist auch inszeniert. Als einst der große Lawrence Olivier von einem etwas jüngeren Kollegen, der erstmals den Lear spielen sollte, gefragt wurde, worauf er bei dieser Rolle besonders zu achten habe, antwortete Olivier: „Auf das Gewicht der Cordelia-Darstellerin!“

Die Anekdote zeigt: In Shakespeares Tragödie steckt auch etwas Sportives. Der Lear bedeutet mindestens die Königsetappe in der Karriere eines Schauspielers. Auf das krönende Schlussbild aber scheint Gert Voss in Luc Bondys Burgtheater-Inszenierung zu Beginn der Wiener Festwochen zunächst zu verzichten. Wie eine letzte Last nur zieht er den in Lumpen und Leinen gehüllten, erst gar nicht erkennbaren Leichnam Cordelias hinter sich her über die leere, riesig schwarze Bühne bis an die Rampe. Ein winziges Wimmern oder Fiepsen, kaum mehr als der Seufzer eines Vogels, ist zu hören, und man weiß gar nicht, ob das aus dem Tuch dringt oder aus Vossens Lear-Brust.

Aber nicht Cordelias Gewicht macht diesem abgedankten König und nunmehr kindlosen Vater zu schaffen. Es ist das Gewicht der Welt, einer ihm längst entgleisten, und das Blei des eigenen Kopfs, des eigenen Herzens. Beide sind sie zu schwer für ihn: in sich verwirrt und gebrochen. Das Außerordentliche dieses Wiener „Lear“ ist nicht so sehr das Königs- oder Familiendrama und nur im Ansatz die groteske, sarkastische Tragödie des Alters und Alterns. Es ist wirklich das: Wahnsinnsdrama. Lear will am Anfang den Liebesbeweis seiner drei Töchter, fällt dabei rein auf die Heucheleien von Goneril und Regan, verstößt Cordelia, die Jüngste, und verschenkt ohne Not sein Reich an die zwei grausamsten Kinder. Das wirkt in Shakespeares jäher Plötzlichkeit verrückt, und Lears verlorene Raison bleibt das Geheimnis des Stücks. Lear ist nur noch, wie der Narr sagt, „Lears Schatten“.

Diesem Schatten aber gibt Gert Voss einen ungeheuren Körper. Alle Metaphysik, alle Psychologie des Wahns wird hier zur Physis des Spiels, in welchem der Akteur freilich nicht bloß schäumt und tobt und endlich physisch bricht. Vielmehr: Vossens Lear will sich selber auf den dunklen Grund kommen. Als wolle er sich den Schädel aufmeißeln, traktiert er mal schlagend, mal fingerstochernd seinen Kopf und dringt in sein weißes, wirres Haar, in diese zum wilden Vogelnest sich auswachsende Einstein-Frisur (statt verwirrtem Haudegen auch eine Spur: verrückter Professor). Oder er spürt sein Herz und spielt zweimal am Rande des Infarkts. Da schwindelt ihm, er taumelt, strauchelt manchmal; dieses Fallen freilich, ohne Aplomb, ohne Königssturz-Pose, scheint ihm nur zu unterlaufen, Lear eiert oder die Erde eiert, ein Schwindel der Welt. Doch er steht jedesmal auf, kämpft, als wehre sich ein Demenzkranker gegen das verrinnende Bewusstsein. Als wolle er, zu spät zwar, noch der Detektiv und Doktor seines längst erkannten Wahns sein, dem eigenen Unglück auf der Spur. Professor Ödipus. Und sein Assistent ist der Narr.

Die junge Birgit Minichmayr wird in dieser Hosenrolle am Ende wie Voss gefeiert (auch von Österreichs Bundeskanzler; und in der Voraufführung, heißt es, saß eine begeisterte Cate Blanchett). Minichmayrs gewitzter Narr, der den Lear lehrt, besser erst weise und dann alt zu werden, ist ein in Lackschuhen und schwarzem Anzug tanzendes, puckhaftes Chaplin-Männchen, dessen Kulleraugen das Leben haben, das in den geblendeten Alten erstirbt oder gemordet wird.

Luc Bondys schönster Regieeinfall: In der Gewitter-Heideszene steht Lear in seiner löchrigen Unterhose auf einem Mülleimerpostament, von seinem heraushängenden weißen Unterhemd wie von Flügeln umflattert, halb Geist des Wahnsinns, halb Engel der Geschichte. Und mit seinem Ersatzszepter, einem Holzstecken, dirigiert er den Sturm und stochert mit dem Stecken zugleich im auffliegenden Müll, den der Narr aus einer Plastiktüte vor die offen platzierte Windmaschine wirft. Dazu donnert und blitzt es, aber den Regen macht keine Maschine. Ihn schöpft und spritzt das närrische Männermädchen aus einem Eimer. So reich sind hier die Ärmsten noch, um selber auch Wettergott zu spielen. Überhaupt bleibt den Verrückten und Verlorenen in Bondys bisher bester Shakespeare-Inszenierung immer ein Rest Souveränität.

Das gilt auch für die unterschiedlich verblendeten Lear-Töchter. Ob giftiger Ehrgeiz und Habgier, ob blinde Vaterliebe, die glaubt, sie würde sich auch ohne Lippenbekenntnis von selbst verstehen: Alle sind sie sehr selbstbewusste, fast modern wirkende junge Frauen. Wenn Learvoss sie anfangs an der Rampe in seiner Umarmung wie in einem Schraubstock hält, ist die angestrengte Beherrschtheit von Andrea Clausens intelligent-intriganter Goneril, ist der wütende Trotz im Blick von Caroline Peters Regan nur zu verständlich. Und Adina Vetters Cordelia wechselt vom eben noch seilhüpfenden Kind zur fast schon altklug stolzen Jungfer, die nach ihrer Verstoßung vier Spielstunden später an der Spitze des französischen Heers tatsächlich wie eine geharnischte Schwester der Jeanne d’Arc die Bühne betritt.

Diese Bühne wird in ihrer mächtig schwarzen Tiefe nur gelegentlich kontrastiert durch Richard Peduzzis hereinrollende bräunliche Wehrtürme. Sie könnten den abstrakten Architekturen eines Gordon Craig oder den Gemälden des frühen de Chirico entlehnt sein. Gegen dieses puristische Pathos der Szenerie spielt in Bondys nicht immer ganz überzeugender Neuübersetzung ein starkes, doch keineswegs überwältigendes Männerensemble an. Allen voran Klaus Pohls Graf Kent und Martin Schwabs Gloster als sehr zivile Typen in kriegerischen Zeiten; dazu Gerd Böckmanns Albany als nobler Hintergrundstratege. Bis zur Selbstentblößung kühn aber ist nur King Voss. Seine Stimme faucht oft so guttural wie der alte Minetti. Doch sein Mund wirkt jung, und zuletzt hat er auf den Lippen das Rot des Clowns, bevor er über seinen drei toten Töchtern zusammensinkt, Cordelia nun endlich im Arm: eine väterliche Pietá. Verrückt. Versöhnt schön.

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