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Kultur: Engel der Melancholie

Juwel aus Japan: Hirozaku Kore-Edas „After Life“ führt in eine magische Welt zwischen Leben und Tod

Dass der schönste Moment des Lebens, das, woran man sich immer erinnern wird, etwas ganz Banales sein kann, hat Marcel Proust vorgeführt: Ein süßer Kuchen, in Tee getaucht, ein Silberlöffel, einige Takte eines Liedes reichen aus, um ihn über Tausende von Seiten in feinste Reminiszenzen zu stürzen. Für andere ist es ein rotes Kleid und ein Kinderlied, der Geschmack einer Zigarette, Kirschbaumblüten im Wind, Wolken, die ein Flugzeug durchfliegt oder eine Achterbahnfahrt in Disney-Land.

Proust stellte es dem Leser noch anheim, den Gedächtniswegen seines Helden zu folgen. Der japanische Filmregisseur Hirokazu Kore-Eda ist schon einen Schritt weiter. Er hat, weil die Menschen sich freiwillig nicht erinnern wollen, eigens eine Stelle geschaffen, die sich mit der Ermittlung der „schönsten Erinnerung des Lebens“ beschäftigt. Schauplatz ist eine verlassene Fabrik in einer Welt zwischen Leben und Tod, eine Art Therapiezentrum für Verstorbene. Hier haben sie eine Woche Zeit, sich zu entscheiden, mit welchem Gedanken sie ins Jenseits eingehen werden. Dabei helfen ihnen Schutzengel, den richtigen Moment zu wählen und ihn dann als Film in Szene zu setzen.

Sie kommen aus dem Nebel, aus dem Nichts, die Toten der Woche. Melden sich ordentlich an der Pforte, bekommen Nummer und Raum zugewiesen. Noch scheinen sie nicht zu wissen, dass sie tot sind, plaudern miteinander im Wartesaal des Todes. Ein General erzählt von seinen Erfolgen, ein Mädchen blickt nachdenklich aus dem Fenster. Draußen fallen die Blätter. „Sie wissen, dass Sie gestorben sind. Herzliches Beileid“, wird eine Frau begrüßt. Sie verbeugt sich, dankt, und lacht schüchtern. Sehr höflich, sehr kultiviert geht es hier zu.

Eine Woche, sieben Tage begleitet der Film diese Menschen. Hört zu, wenn sie nach Erinnerungen suchen, beobachtet die Begleiter bei der Arbeit, in der Freizeit. Ein kleiner Flirt, ein Bad, das abendliche Schachspiel, die morgendliche Beratung. Und die Lagebesprechung: Wo sind Probleme, wer will sich nicht erinnern und warum? „After Life“ basiert auf Hunderten von Interviews mit Leuten, die Kore-Eda nach ihrer schönsten Erinnerung befragte. Manche der Interviewten spielen mit, treten frontal vor der Kamera auf und erzählen ihr Leben: Die senile Alte, die sich nur noch an ihre Kindheit erinnert, das junge Mädchen, das sich voller Begeisterung ins Disney-Land wünscht, der Junge, der sich nicht erinnern will, weil er die Zukunft noch vor sich zu haben glaubt, der schmierige Geschäftsmann, der von Prostituierten prahlt und am Ende die Hochzeit seiner Tochter wählt.

Und plötzlich fängt der Zuschauer selber an zu suchen, zu forschen nach seiner schönsten Erinnerung. Denn keineswegs will es ihm gehen wie dem Beamten, der sich partout an nichts Besonderes erinnern kann, weil ihm sein ganzes Leben nur mittelmäßig schien. Und dann sieht man mit diesem Durchschnittsmenschen Videofilme seines Lebens, für jedes Jahr ein Film: er als Angestellter im Büro, mit seiner jungen Frau zu Hause, mit seiner älteren Frau auf einer Parkbank. Ja, er hat recht. Es war ein mittelmäßiges Leben, eines, das kaum die Erinnerung lohnt – und dank der Geduld, mit dem die Berater nachforschen, enthüllt es schließlich doch noch sein Geheimnis.

Kore-Eda gelingt es mit „After Life“, ganz nebenbei die ganz großen Fragen des Lebens zu stellen. Es geht um Ehrlichkeit, um Verantwortung, um das, was ich gemacht habe aus meinem Leben und wie ich dazu stehe. Denn was, wenn ich mich an keinen einzigen schönen Moment erinnern kann? Was, wenn ich mich nicht erinnern will, weil mit der Erinnerung gleichzeitig alle anderen Erinnerungen stürben? Was, wenn ich statt Erinnerungen lieber Träume wähle, Hoffnungen, Zukunftsszenarien? Was, wenn die Erinnerung falsch ist, das Erinnerte so nie stattgefunden hat? Für jede dieser Fragen findet Kore-Eda einen Kronzeugen unter den Verstorbenen – und zum Schluss eine Antwort. Wobei – zärtliche Pointe – die schönste Erinnerung dem geschenkt wird, der keine haben wollte.

„After Life“ ist ein überwältigend kluger, ein hoch philosophischer Film. Er verliert nie die Realität aus den Augen und bricht sie zugleich – weil er sie aus einem Zwischenreich betrachtet, aus der Welt der melancholischen Engel. Hier verlässt der Film das Feld des durch Dokumentation Gesicherten, wird Fiktion – und Kunst. Denn die Berater sind die eigentlichen Helden in „After Life“. Weil sie alle aus gutem Grund nicht den schnellen Weg ins Jenseits gewählt haben, sondern im Purgatorium verharren. Weil sie Woche für Woche um das Glück ihrer Schützlinge kämpfen, ohne ihr eigenes erlangen zu können. Und weil sie die Antwort auf die schwierigste aller möglichen Fragen erhalten: Was, wenn der schönste Erinnerungsmoment erst nach dem Tod eintritt?

fsk (OmU), Hackesche Höfe (OmU)

Christina Tilmann

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