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Kultur: Ensemble wagt sich ohne "political correctness" an ein Tabuthema

Dürfen Juden Spekulanten sein? Und wenn sie es sind, darf man das offen sagen, von einer deutschen Bühne?

Dürfen Juden Spekulanten sein? Und wenn sie es sind, darf man das offen sagen, von einer deutschen Bühne? Nach dem deutschen Massenmord an den europäischen Juden wurde dieses Thema zum mächtigen Tabu. Vor einigen Jahren sorgte Irene Dische für Furore mit ihrer Novelle "Fromme Lügen", in der ein junger Amerikaner in Berlin seine jüdische Familiengeschichte entdeckt. Während er noch überlegt, ob er das Erbe seines Vaters antreten soll, lernt er jüdische Geschäftsleute kennen, die hart am Klischee des Schacherjuden gezeichnet sind. Der wohlbehütete Junge aus gutem Hause verliebt sich in Esther, die Geschäftspartnerin und Geliebte seines verstorbenen Vaters. Sie bringt ihn dazu, seine jüdische Identität anzuerkennen, sich als Teil der zuvor durchaus negativ gezeichneten jüdischen Gesellschaft zu bekennen.

Mit der Dramatisierung dieser Novelle setzt sich nun auch die Neuköllner Oper der Gefahr aus, des Antisemitismus beschuldigt zu werden. Dabei übersehen diese Kritiker die groteske Pointe der Geschichte: Esther ist keine Jüdin. Ihr Vater war Rechtsanwalt und SS-Mitglied, aus übersteigertem Philosemitismus hat sie sich eine jüdische Identität zusammengelogen.

Die komplexen Erzählebenen der Novelle werden in der Dramatisierung von Peter Lund geschickt in Simultanszenen und geradezu filmische Überblendungen aufgelöst. Der Regisseur Bernd Mottl arrangiert das Stück gefällig zwischen Musical und Betroffenheitsdrama und gleitet auch beim lustvoll bedienten Klischee vom "Anatevka-Juden" nicht in plumpen Kitsch ab. Besonders Boris Pilar zeigt in kleinen Gesten höchste Kunst. Vom linkischen Jungen entwickelt er sich zum Individuum, zum Menschen, der schließlich seine Identität erkennt. Christiane Mueller hat es in dieser etwas zu plan naturalistischen Inszenierung schon schwerer, die Abgründe der zerrissenen Persönlichkeit aufzuzeigen. Warum diese Frau ihren Tick entwickelt, das hätte man gerne genauer gewusst. Doch es gelingen ihr Momente großer Intensität in der einsamen Rückschau auf ihr Leben. Allerdings verpufft die Pointe ihrer "arischen" Herkunft, ohne größeren Eindruck zu hinterlassen.

Das liegt aber nicht an der Interpretin. Ein Grund könnte die ein wenig belanglose Musik des unvergessenen US-Berliner Pianisten Alan Marks sein, die von Wolfgang Böhme zwar geschickt für Klavierquintett arrangiert wurde, aber leider nicht genügend Abwechslung für einen dreistündigen Abend bietet, auch wenn sich das Aulos-Quartett nebst Hans-Peter Kirchberg am Klavier um farbenreiches Spiel bemüht. Die Songs sind immer dann gut, wenn sie hemmungslos Klischees bedienen oder an Revue- und Musicalseligkeiten anknüpfen können. In den Strecken dazwischen plätschert die Musik harmlos dahin. Ob dieses Stück zum Skandal taugt? Das ist zu bezweifeln. Aber ein exzellentes Ensemble packt ein hochtabuisiertes Thema an, ohne in die Falle der "political correctness" zu tappen. Und schon wegen der geschmacklosen Witze lohnt sich auch für Nicht-Neuköllner die Reise.

Nächste Vorstellungen heute, 30. September, 1./2. Oktober, 20 Uhr.

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