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Kultur: Entdecken! Hören! Fragen! Lesen!

Jetzt wissen wir: Wir sind ein Entwicklungsland.Während wir verdrossen auf unsere jüngste Geschichte blicken und um ein angestaubt anmutendes Selbstverständnis ringen, verpassen wir, was anderenorts an zeitgemäßerem Umgang mit politischer Identität entwickelt wird.

Jetzt wissen wir: Wir sind ein Entwicklungsland.Während wir verdrossen auf unsere jüngste Geschichte blicken und um ein angestaubt anmutendes Selbstverständnis ringen, verpassen wir, was anderenorts an zeitgemäßerem Umgang mit politischer Identität entwickelt wird.Zum Beispiel in Kanada.Kanada hat eine multikulturelle Verfassung, und es verfügt über verschiedene "Literaturen"."Schreiben ist in Kanada ein politischer Akt", sagt Heike Kärting, der das große Verdienst zukommt, daß wir in dieser Woche namhafte Schriftsteller und Dichterinnen aus dem Land der Grizzlybären kennenlernen können.Sie hat - zusammen mit Angelika Ludwig - das kanadische Literaturfestival in Pankow organisiert.Und wieder einmal ist es die LiteraturWERKstatt, die Berlin über seinen Tellerrand hinausschauen läßt und uns mit internationaler Kreativität konfrontiert.

Den Auftakt bot Timothy Findley, ein Vertreter der älteren, etablierten kanadischen Literatur."Sie werden sich wundern, daß alle meine Figuren heute eine starke Erkältung haben", sagte er lachend, als ihm die Stimme brach und er ins Mikro hustete.Doch die Anstrengung verlieh dem ehemaligen Schauspieler, der in seinem Erfolgsroman "Die Tochter des Klavierspielers" das Szenische zum Stilprinzip macht, einen besonderen Reiz.Ganz deutlich wurde, was in einer Übersetzung kaum einzuholen ist: die unerhörte Rhythmik seiner Sprache, die mit Binnenreimen eine konventionell wirkende Prosa aufbricht.

Brüche, Lücken, Fragmente: Robert Kroetsch, ein Grenzgänger literarischer Formen, spürt sie in einer "alternativen Geschichtsschreibung" auf; er fragt nach der weiblichen Sichtweise und parodiert damit die männliche Geschichte der Eroberung und Entdeckung.Lee Maracle, wie Drew Hayden Tylor den sogenannten "First Nation peoples" zugehörig (ein umstrittener Begriff für die "natives", "indianische Ureinwohner, die überlebt haben") bezieht sich in Essays, Romanen und Gedichten auf orale Traditionen ihrer Herkunft, die jenseits des Folkloristischen Erfahrungen zur Sprache bringen.Hiromi Goto wandelt den Satz Rushdies "The Empire writes back" um in "Writing back to Joy Kogawa"; sie bezieht sich mit dieser Schriftstellerin auf eine längst entwickelte eigene Kultur eingewanderter Japanerinnen und erzählt von den lange verschwiegenen Internierungslagern.

Die Geschichte des Landes in Geschichten aufzusplittern, um so ein Bewußtsein für die unterschiedlichen Kulturen zu schaffen, ist für alle ein zentraler Topos: "Writing through differences: solitudes canadiennes".Doch von Einsamkeit kann bei diesem Treffen keine Rede sein."Wir sind froh, uns alle einmal zu sehen", sagt Finley, und M.G.Vassanji streitet freundlich mit Daphne Marlatt, ob die Länder, in denen sie oder ihre Eltern geboren wurden, Kolonien waren."Denkst du bei mir an Indien oder an Kenia", fragt Massanji, "in jedem Fall wart ihr die Kolonialherren!", doch Marlatt gibt zurück: "Meinst du Australien oder Malaysia?" Sie lachen, denn nichts ist einfach an Kanada.Kollege Dany Laferrière, 1976 vor Duvalier aus Haiti geflohen, lebt inzwischen in Miami (wegen der Sonne), arbeitet jedoch für den kanadischen Rundfunk.Schwarze Körper, weiße Körper, der weibliche Körper als Mythen werden auseinandergenommen; so auch von Nicole Brossard, einer experimentell-feministischen Dichterin aus Quebec.

Diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die, ob Männer oder Frauen, stets die weibliche Form mitnennen, sind in einen lebhaften Dialog miteinander verwickelt.Und uns fragen sie aus, über Deutschland, über die Bedeutung Christa Wolfs, über Modelle multikultureller Verfassungen hier.Wir stottern beschämt angesichts dieser Vielfalt.Ich empfehle Ihnen: Auf nach Pankow! Und: - ganz ohne koloniale Geste - entdecken! Hören! Fragen! Lesen!

18.11. Historiographien kultureller und weiblicher Differenz: M.G.Vassanji und Daphne Marlatt

19.11.Literarische Stimmen aus Quebec: Nicole Brossard und Dany Laferrière.

20.11. Zwischenräume beschreiben: Hiromi Goto und Drew Hayden Taylor LiteraturWERKstatt Pankow, jeweils 20 Uhr.

TANJA LANGER

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