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Maestro. Donald Runnicles (58) ist seit 2009 Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin. An diesem Montag begleitet er als Pianist Kammermusik von Britten, am 25. Januar dirigiert er die Premiere von „Peter Grimes“. Foto: Pablo Castagnola

© Pablo Castagnola

Kultur: „Er bringt den Sturm zum Klingen“

Donald Runnicles über die sinnliche Musik von Benjamin Britten und die „Peter Grimes“-Premiere.

Maestro Runnicles, Sie eröffnen die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Benjamin Britten zusammen mit den Musikern vom Orchester der Deutschen Oper Berlin. In der neuen Spielstätte der Tischlerei sitzen Sie bei einem Konzert mit Kammermusik des Briten am Flügel.

Ja, ich werde die Mezzosopranistin Jana Kurucova bei verschiedenen Liedern Brittens begleiten. Dazu haben wir das 2. Streichquartett ausgewählt sowie die „Fanfare for St. Edmundsbury“ für drei Trompeten, das „Phantasy Quartet“ für Oboe, Violine, Viola und Violoncello und „Lachrymae – Reflections on a song of John Dowland“ für Viola und Piano. Benjamin Britten war ein Allroundtalent, ein echter Renaissancemensch, in allen Bereichen der Musik zu Hause. Auch als Interpret übrigens: ein fantastischer Pianist und sensibler, sorgfältiger Dirigent. Unser „Britten pur“-Abend ist als Spotlight auf den Kammermusikkomponisten gedacht, bevor am 25. Januar im großen Haus „Peter Grimes“ Premiere hat ...

... Brittens Meisteroper von 1945, die Sie seit einem Vierteljahrhundert dirigieren.

1988 habe ich „Peter Grimes“ erstmals gemacht, zusammen mit dem Filmregisseur Tony Palmer in Zürich. Seitdem gibt es diese Liebe zu Brittens Musik. Ich finde seine Musik gigantisch. Wie er die Funktionsmechanismen der Gesellschaft darstellt, ist immer wieder faszinierend. Wie die Dorfgemeinschaft den Fischer Peter Grimes zum Außenseiter macht, weil er anders ist als sie, wie sie ihn isolieren, bis er das Mobbing nicht mehr aushält, in den Selbstmord getrieben wird.

Am Anfang Ihrer Karriere waren Sie vor allem glühender Wagnerianer. Wann haben Sie Benjamin Britten lieben gelernt?

In der Tat war der erste „Ring des Nibelungen“, der 1971 in meiner schottischen Heimat gezeigt wurde, für mich eine Offenbarung. Als Knabensopran habe ich in Brittens „Gloriana“ gesungen, zudem wurden in dem Chor, den mein Vater geleitet hat, viele seiner „Anthems“ aufgeführt und natürlich auch die „Ceremony of Carols“. Auch wenn ich das Glück hatte, 1978 in London „Peter Grimes“ mit dem legendären Jon Vickers in der Titelrolle zu sehen, begann die intensive Beschäftigung mit Brittens Opern erst, als ich in Deutschland am Theater arbeitete. In Mannheim, Hannover, vor allem dann als Generalmusikdirektor in Freiburg. Dort war ich ein Ausländer, die englische Musik hat ganz anders auf mich gewirkt, viel tiefer, intensiver. Da begann ich zu glühen, da habe ich die Botschaft der Britten-Opern auch verstanden. Seitdem habe ich immer wieder versucht, möglichst viel Britten zu dirigieren, an der Wiener Staatsoper, während meiner Zeit an der San Francisco Opera natürlich und in Freiburg. Und jetzt starten wir in Berlin mit „Peter Grimes“ einen Schwerpunkt, der in der kommenden Spielzeit mit „Billy Budd“ fortgesetzt wird.

Wie würden Sie den britischen Komponisten denn stilistisch einordnen?

Für mich gibt es eine Linie von Mussorgsky und Schostakowitsch zu Britten und weiter zu Leonard Bernstein. Der 23-jährige Britten war 1936 bei der englischen Erstaufführung von Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ dabei. Wie Britten mit den Zwischenspielen in „Peter Grimes“ umgeht, den „Sea Interludes“: da hat er viel gelernt von „Lady Macbeth“. Bernstein wiederum hat die amerikanische Erstaufführung des „Peter Grimes“ dirigiert – und danach kann man den stilistischen Einfluss Brittens in seinen Werken ganz deutlich verfolgen.

Bei allen drei Komponisten gilt: Sie haben im 20. Jahrhundert Musik geschrieben, die für die Hörer unmittelbar zugänglich ist.

Ja, bei Britten werden immer packende Geschichten erzählt, sowohl musikalisch als auch dramaturgisch. Vielleicht liegt es daran, dass Britten als junger Mann zum Geldverdienen viel Filmmusik komponiert hat, ebenso wie Schostakowitsch übrigens. Soundtracks müssen so gemacht sein, dass sich die Zuhörer sofort etwas dabei vorstellen können. Das kam ihm später zugute. Er hat beispielsweise eine enorme Sensibilität, wenn es darum geht, die Musik der einfachen Leute nachzuempfinden. In den Chorszenen von „Peter Grimes“ meint man, traditionelle Folksongs zu hören – aber alles ist original Britten. Großartig finde ich auch, wie er das Meer, den Sturm musikalisch zum Klingen bringt, das ist enorm atmosphärisch. Man sieht den Horizont, hat dieses Gefühl der unendlichen Weite.

Haben Sie Britten noch persönlich kennengelernt?

Nein, leider nicht. 1974 war ich zumindest räumlich ganz in seiner Nähe, als Student in Cambridge, was nicht so weit von Aldeburgh entfernt ist. Aber getroffen habe ich ihn vor seinem Tod 1976 nicht. Um so mehr habe ich über ihn gelesen, mich mit ihm beschäftigt. Er war ein merkwürdiger, irrsinnig komplizierter Mensch. Bis zum Schluss hat er immer an sich gezweifelt, hat sich gefragt: Bin ich gut genug? Und er befand sich auch privat in einem ständigen Kampf mit sich selber, mit den gesellschaftlichen Normen. Was seine Homosexualität betraf, über die man damals nicht sprechen konnte; was seinen Pazifismus betraf, der ihn dazu brachte, während des Krieges in die USA zu emigrieren, was ihm wiederum zu Hause, auch in Künstlerkreisen, als Landesverrat angekreidet wurde.

Dietrich Fischer-Dieskau, der bei der Uraufführung des „War Requiem“ den Bariton-Solopart sang, hat einmal über Britten gesagt: „Seine Musik spricht von den verschatteten Seiten des Lebens.“

Peter Grimes ist ein zwiespältiger, undurchschaubarer Typ. Am Ende der Oper fragt man sich tatsächlich: Stimmt der Vorwurf der Dorfgemeinschaft? Hat er die Jungen, die ihm beim Fischen halfen, getötet, absichtlich oder zumindest fahrlässig? Nur – wie geht man mit Personen um, die sich abkapseln wie Grimes, die sich verschließen gegen die Außenwelt? Weil er anders ist, mal zärtlich, dann wieder völlig unbeherrscht, wird er ausgestoßen aus der Gemeinschaft, bis er tatsächlich das wird, was die anderen ihm unterstellen: ein Ungeheuer. Eine self fulfilling prophecy.

Sie haben David Aldens 2009 für die Londoner English National Opera entstandene Inszenierung von „Peter Grimes“ für den Start des Berliner Britten-Schwerpunkts ausgewählt ...

Ich finde die Produktion wirklich gelungen. So muss man Peter Grimes inszenieren! Man braucht dazu keine pittoreske Kulissen, die die englische Küste samt niedlichen Fischerhütten kopieren wie in einem Bilderbuch. Hier haben wir ein etwas abstrahiertes Bühnenbild, wodurch man sich als Zuschauer besser auf den eigentlichen Kern der Geschichte konzentrieren kann, auf die Beziehung zwischen den Menschen. Das ist zeitlos und stark. Die Geschichte könnte in jedem Land stattfinden, in jedem Dorf. Die Botschaft ist universal: Akzeptiert das Anderssein, schiebt nicht jeden ab, der anders ist als ihr.

Das Gespräch führte Frederik Hanssen.

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