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Psychoanalyse: Erich Fromm

Der Mensch und sein Anwalt: Der Soziologe und Entfremdungskritiker ist wieder aktuell.

In seinem Alterswerk, das 1976 vor allem in Deutschland und Italien Kultstatus erreichte, brachte Erich Fromm die Identitätskrise der modernen Gesellschaft schon im Titel zum Ausdruck: "Haben oder Sein". Er beschrieb einen "notorisch unglücklichen Menschen", der die vollständige Anpassung an die Marktgesellschaft suche, dadurch aber sein "Selbst" verliere.

Ihm attestierte Fromm schließlich eine "chronisch leichte Schizophrenie". Für das Denken des Sozialpsychologen und -philosophen, das geprägt war von Gegensatzpaaren wie Schein und Sein, wahrem Selbst und falschem Bewußtsein, Verdinglichung und Vitalität, sind zwei grundlegende Erfahrungen ausschlaggebend gewesen: der deutsche Nationalsozialismus und die technikorientierte Konsumgesellschaft des American way of life.

In einer orthodox jüdischen Familie aufgewachsen, studierte Fromm in Heidelberg Soziologie und machte in Berlin eine Ausbildung zum Psychoanalytiker. Anfang der dreißiger Jahre wurde er Mitglied des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, wo er für Fragen der Psychoanalyse und Sozialpsychologie zuständig war. Innerhalb der "Frankfurter Schule" entwickelte Fromm sein Konzept des "autoritären Charakters", mit dem er besonders die Psychogenese des Nationalsozialismus zu erklären versuchte. 1934 emigrierte er in die USA, später zog er nach Mexiko. Dennoch blieben die Vereinigten Staaten der Bezugspunkt seines Wirkens als Psychotherapeut und rationalistischer Aufklärer. Den in der Konsumgesellschaft vorherrschenden Persönlichkeitstyp erkannte Fromm früher als die amerikanische Soziologie und Kulturkritik.

Bereits in den vierziger Jahren hatte er die Ausrichtung des "Marketing-Charakters" auf die Warengesellschaft als Hauptursache psychischer Störungen begriffen. Seine These: "Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit."

Doch Fromm gab sich nicht mit der bloßen Diagnose zufrieden. Er ging der Frage nach, wie der Mensch sich und seine Gesellschaft ändern könne. Dabei glaubte er stets an die Unbesiegbarkeit der guten Substanz im Menschen. Anders als dem deutschen Philosophen Ernst Bloch, der sein "Prinzip Hoffnung" entschieden ideologisch begründete, ging es Fromm darum, die persönliche Wertwahl mit Hilfe der Wissenschaft zu untermauern. Hintergrund war die Auseinandersetzung mit dem Behaviourismus, den Fromm als "Rattenpsychologie" bezeichnete und dessen kleingeistigen Empirismus er leidenschaftlich ablehnte. So versuchte Fromm in "Psychoanalyse und Ethik", die Geltung einer humanistischen Sittlichkeit zu beweisen, indem er diese der biologischen Konstitution des Menschen zuordnete. In der ungehemmten Entwicklung des Organismus sah Fromm das wichtigste menschliche Bedürfnis: die Freiheit. Dagegen stand für ihn die gesellschaftliche "Entfremdung": als eine Verkrüppelung der ursprünglichen Natur des in seinen Genen auf Wachstum, Liebe und Vernunft kodierten Menschen. Erst die Zivilisation habe das Böse in die Welt gebracht - für Fromm war sie mit der Erbsünde identisch.

Diesen Gedanken hatte zwar schon der französische Aufklärer Jean Jacques Rousseau formuliert. Doch Fromm fragte in seiner umfangreichsten Schrift "Anatomie der menschlichen Destruktivität" nach den seelischen Grundlagen der Aggression im 20. Jahrhundert, die ideologisch rationalisierte Massengewalt hervorgebracht hatte. Aus seinen Studien zu Hitler und Stalin folgerte er unter anderem, dass das Böse keine Hörner besitze. Zugleich sprach er jedoch von einer "nekrophilen" Grundstrebung in den hochindustrialisierten Gesellschaften, die sich in bösartiger Aggresion manifestieren könne. Die Faszination für das Leblose und Dingliche müsse allerdings nicht unbedingt im Holocaust enden; der Mensch verhalte sich schon dann "nekrophil", wenn er etwa sein Auto wasche.

Dagegen setzte Fromm auf eine "Revolution der Hoffnung". Und postulierte die "Kunst des Liebens". In diesem Best- und Longseller von 1956, der mittlerweile in 25 Sprachen übersetzt ist, predigte Fromm die Entfaltung der gesamten Persönlichkeit, die an sich selbst, den Anderen, schließlich an die ganze Menschheit glauben solle.

Oft hat man Fromms Schaffen deshalb der simplen Heilslehre bezichtigt. Sein Rivale aus der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, gab zu bedenken, dass es kein wahres Leben im falschen gebe. Und Herbert Marcuse kritisierte das unerreichbare Ziel "Glücks-Therapie", das Fromm als Revisionist der Freudschen Psychoanalyse verkündete. Dagegen hielt Fromm seine Erfahrung als Therapeut und warf Marcuse "intellektuellen Nihilismus" vor. Als ein im Talmud unterrichteter Jude hatte sich Fromm messianische Vorstellungen tatsächlich zu eigen gemacht. "Das messianische Motiv", sagte er, "hat zwei Dinge in sich: einmal ein Religiöses, die Vollendung des Menschen, die Konzentrierung des Lebens auf geistige, religiöse, moralische Normen, und ein Politisches, nämlich die wirkliche Änderung der Welt, eine neue Gesellschaftsverfassung, die diese religiösen Prinzipien durchsetzt."

Dieses aufklärerische Motiv, das nicht zuletzt die Ökologie-Debatte der 70er und 80er Jahre beeinflusst hat, dürfte zum Erfolg der Frommschen Schriften beigetragen haben. Die Gesamtauflage seiner 40 Bücher wird auf über 50 Millionen Exemplare geschätzt. Unlängst wurde Fromm zu seinem 100. Geburtstag mit einer um zwei Bände erweiterten Gesamtausgabe gewürdigt. Rainer Funk, Herausgeber und langjähriger Schüler Fromms, begreift seinen Meister auch heute noch als zentrale Figur des Humanismus des 20. Jahrhunderts.

Die wissenschaftliche Methode des Sozialforschers mag inzwischen unhaltbar oder kurios wirken: Fromm hatte für seine Studien über "Angestellte und Arbeiter am Vorabend des Dritten Reichs" und den "Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes" Fragebögen so ausgewertet, als ob ein Psychoanalytiker auf die Assoziationen seiner Patienten hört. Wenn man heute nach der Aktualität Fromms fragt, muss man seinem Werk vor allem zeitgeschichtliche Bedeutung zumessen. Oder man beruft sich auf das stete Unbehagen des Sozialphilosophen, das er dem Kapitalismus entgegengebracht hat.

Fromm wollte das Leiden in aufrüttelnden Schmerz verwandeln. "Die Kranken", bemerkte er kurz vor seinem Tod im Frühjahr 1980, "sind die Gesündesten. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Wie glücklich der, der einen Schmerz hat. Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfände, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage." Selbst Marcuse hätte hier nicken können.

Roman Rhode

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