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Der Sohn. Aris Fioretos skizziert seinen Vater mit burleskem Humor.

© Sara MacKey

Erinnerung an den Vater: Der Paparat

Aris Fioretos’ sehr persönliche Liebeserklärung „Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater“.

Vierzig Zündhölzer enthält eine Schachtel der schwedischen Marke Solstickan. 1936 erhielt Einar Nerman den Auftrag, das Etikett zu gestalten. Er zeichnete einen kleinen Jungen, der mit offenen Armen auf eine Sonne mit zackigen Strahlen zuläuft. Von dem orangenen Himmelskörper ist dabei nur ein Viertel zu sehen. Eine solche Solstickan-Schachtel gehörte neben Belüftungsventilen oder Gesangbüchern zu den Dingen, die Aris Fioretos bei der Trauerfeier für seinen Vater wahrnahm und festhielt. „Es ist ein Baby-Ikaros mit orangefarbenen Haarsträhnen und flatternden Kragenecken“, schreibt er über den Streichholzjungen: „Mit leeren Händen bewegt er sich vorwärts, indem er rückwärtsgeht. Die Apfelsine: zugleich Ursprung und Ziel.“

Damit hat Aris Fioretos in nuce Motiv und Vorgehensweise seiner Elegie „Die halbe Sonne“ formuliert. Den vierzig Streichhölzern entsprechen die vierzig Tage Trauer, die im orthodoxen Christentum üblich sind. Vierzig Thesen über ausländische Väter wiederum durchziehen das dreiteilige Erinnerungsbuch, das sich jeder Gattungsbezeichnung entzieht. Es ist wie die Anatomie des menschlichen Körpers, die Vater und Sohn intensiv beschäftigte, auf kühne Weise polymorph. Nur so kann sich der Autor dem Vater als einem „wilden Begriff“ nähern. Er tut dies in Form von Notizen, Dramoletten, Interviews oder Kürzest-Essays von nicht mehr als drei Sätzen. Mehr Worte braucht der wie stets stilistisch blendende und verblüffend einfallsreiche Aris Fioretos nicht. Dem Wahl-Berliner ebenbürtig zur Seite steht sein bewährter Übersetzer Paul Berf.

Nicht das bewährte literarische Sujet des Vatermords betreibt der Autor also, sondern das herausfordernde der Vaterrekonstruktion. „Repaparatur“ nennt er sein liebevoll-poetisches Verfahren. Dabei will er mittels des „Paparats“ den Vater ausdrücklich nicht neu erfinden, wovor ihn die Stimme des „Gesterbten“ (wie ihn die sechsjährige Enkelin nennt) ohnehin aus dem Jenseits warnt. Vielmehr folgt er der Arbeitshypothese, wonach der Vater „vieles enthält, was den Sohn beschäftigt“. So entstehen „Skizzen eines Menschen“, der als siebtes Kind eines Lebensmittelhändlers auf Kreta geboren wurde. Mit 19 verließ Fioretos senior die Heimat, um in Wien Medizin zu studieren. Mit seiner österreichischen Frau, einer Kunststudentin, ging er nach Schweden, wo 1960 Sohn Aris geboren wurde. Der Militärputsch in Griechenland am 21. April 1967 machte ihn endgültig zum Auslandsgriechen. Den seelischen Implikationen dieses Begriffs widmete Fioretos den Roman „Der letzte Grieche“ (2011), in dem er sich bereits in familiengeschichtliche Gefilde vortastete. Diesen Kontext nehmen die Thesen über ausländische Väter in „Die halbe Sonne“ auf. Sie bilden das Herzstück des Buchs, verleihen ihm einen teils komischen, teils feierlich-zärtlichen Tenor: „Einen ausländischen Vater gibt es nur im Plural, dennoch ist er unvergleichlich.“

Die skandinavische Sonne habe der mediterrane Vater nur als „halbe Sonne“ empfunden, erinnert sich der Sohn. Immer wieder taucht sie auf, ob als aufgeschnittene Orange, ob als etwas „Gelbes, Glänzendes, halb Vergessenes“ in Gestalt eines Totenschädels, oder zum Schluss als Kugelbauch von Aris Fioretos’ Mutter kurz vor seiner Geburt – dem magischen Moment, als der Vater zum Vater wurde.

Schon in Fioretos’ zweitem Roman „Die Wahrheit über Sascha Knisch“ (2003), der im Milieu des Sexualforschers Magnus Hirschfeld in der überhitzten Endphase der Weimarer Republik spielte, fiel der naturwissenschaftliche Blick dieses Schriftstellers auf. Der Sohn eines Chirurgen, der selbst mit einem Medizinstudium liebäugelte, schreibt zuweilen mit der Kälte flüssigen Stickstoffs. Er bedient sich einer physiologischen Diktion, die im Sinne August Strindbergs den Materialcharakter der Seele offenlegt. So ist nun etwa vom „König Dopamin“ die Rede. Der Botenstoff befiehlt den bereits neurologisch erkrankten Vater mitten in der Nacht zum Kühlschrank, um im Lichtschein dessen „frostiger Sonne“ die Vorräte zu plündern.

Dieser eigentümliche, kühle bis burleske Humor bewahrt Aris Fioretos’ bislang persönlichstes Werk vor Sentimentalität. „Fast immer geht es um Zeichen unerwarteter Fürsorglichkeit, eine kühne Tat, ein charismatisches Auftreten – es ist, als wolle er mit ihnen gemeinsam das Dasein feiern.“ So schildert der Autor, wie sein Vater auf die Menschen wirkte. Es ist die Daseinsfeier eines Sonnensuchers, dessen Geschichte im Gegensatz zum Vater-Sohn-Paar Daedalus und Ikarus trotz allem glücklich ausging.

Aris Fioretos: Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Carl Hanser Verlag, 192 Seiten, 18,90 Euro.

Lesungen von Aris Fioretos: Wirtshaus Max und Moritz, Oranienstraße 162, Kreuzberg, 8.6., 20 Uhr; Buchhändlerkeller, Carmerstraße 1, Charlottenburg, 13.6., 20.30 Uhr.

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