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Im Spätherbst des Lebens. Vera Lourié (1901-1998).

© Claudia Jeczawitz

Erinnerungen an Charlottengrad: Briefe einer Zeitzeugin erstmals veröffentlicht

Vera Lourié schrieb ihre Erinnerungen an das russische Berlin der zwanziger Jahre in Liebesbriefen auf. Über ein Jahrzehnt schlummerten die Dokumente in den Archiven der Akademie der Künste.

Sie war die letzte Zeugin von Charlottengrad, jenem russisch geprägten Areal zwischen Kurfürstendamm, Tauentzienstraße und Wittenbergplatz in Berlin, das Anfang der zwanziger Jahre rund 300 000 russische Flüchtlinge beherbergte. Vera Osipowna Lourié, 1901 als Tochter eines Arztes in St. Petersburg geboren, kam 1921 nach Berlin, wo sie 1998 mit 97 Jahren starb. Die Dichterin verkehrte in den prominentesten exilrussischen Kreisen. Als sie sich mit 80 in die Frau ihres Arztes verliebte, schrieb sie der Angebeteten ihre Erinnerungen in Form von Briefen, die sie als Tagebuch einer Seele veröffentlichen wollte. Während der Berliner Festwochen 1995 las sie im Deutschen Theater daraus vor. Ein Verlag fand sich nicht. Die Berlinische Galerie hütet zwei ihrer Fotoalben, die Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek hat einen Band mit zumeist russischen Gedichten herausgegeben.

Über ein Jahrzehnt schlummerten Vera Louriés „Erinnerungen an das russische Berlin“ in den Archiven der Akademie der Künste. Sie war Dichterin und Journalistin und stammte aus St. Petersburg. An diesem Wochenende werden sie in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ (Heft 4/2011, Einzelpreis 9 €) zusammen mit einem Porträt der Autorin von Doris Liebermann zum ersten Mal veröffentlicht.

Wir dokumentieren einen Auszug. Weiter auf Seite 2.

Im Spätherbst 1921 kamen wir in Berlin an und wohnten zunächst in der Pension Steinplatz am damaligen Knie, dem heutigen Ernst-Reuter-Platz. Damals hatte mein Großvater noch etwas Geld, aber wir konnten dennoch nicht lange in der Pension wohnen, weil sie einfach zu teuer war. In jenen Tagen hingen in den Fenstern der nicht so vornehmen Gartenlokale Schilder mit der Aufschrift: „Hier können Familien Kaffee kochen“. Es war eine beliebte Sitte.

An manchen Tischen sah man Männer Skat spielen, die Frauen strickten oder häkelten. Man brachte Kaffee, Tee, belegte Brötchen und Kuchen von zu Hause mit und bestellte sich dann eine Kanne kochenden Wassers, um den Kaffee aufzubrühen. Tassen, Teller, Löffel und Messer wurden gegen eine Leihgebühr von dem Lokal gestellt.

Einige Zeit lang war die Gegend um Wittenbergplatz, Tauentzienstraße und Gedächtniskirche fest in russischer Hand. An jeder Ecke gab es russische Lokale, auf den Straßen hörte man die Leute russisch sprechen. Es gab 86 russische Verlage und über 100 Zeitungen. Vorübergehend lebten über 300 000 russische Emigranten in Berlin. Um das Jahr 1921 herum bewohnten Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg und seine Frau Ljuba Michailowna, eine Kunstmalerin, ein Zimmer in einer Pension in der Passauer Straße. Die Ehrenburgs waren selber nicht emigriert, sie besaßen die Erlaubnis der sowjetischen Behörden, sich im Ausland aufzuhalten. Mit ihnen war ich eng befreundet, insbesondere mit Frau Ehrenburg. Den Ehrenburgs habe ich zu verdanken, dass ich viele interessante Menschen kennengelernt habe.

Manchmal nahmen sie mich in das vornehme Restaurant Schwannecke mit, in dem die linksstehende literarische Prominenz Berlins verkehrte. Dort traf ich auch mit Ernst Toller, Axel Eggebrecht und Leonhard Frank zusammen. Zuvor war das Romanische Café in der Nähe der Gedächtniskirche das Zentrum der Literaten und Maler. Zu meiner Zeit war das Niveau dort aber so tief gesunken, dass man kaum mehr Künstler mit Namen treffen konnte.

Ilja Ehrenburg und seine Frau sagten „Sie“ zueinander. Er redete sie mit „Sie, Ljuba“ an, und sie nannte ihn: „Sie, Ilja Grigorjewitsch“. Ich hieß bei ihnen „Wolodja“, weil ein Artikel von mir in der Zeitung „Dni“ versehentlich mit „Wl. Lourié“ gezeichnet war. Wl. ist die Abkürzung von Wladimir und Wolodja ist die Zärtlichkeitsform dieses Namens. In eines seiner Bücher schrieb mir Ilja Ehrenburg: „Ich widme es meinem lieben Wolodja, nicht einem Kapaun, sondern einem Huhn.“

Ilja Ehrenburg war ein sehr kluger Mann und hatte eine scharfe Zunge. Obwohl ich gut mit ihm befreundet war, kann ich ihn nicht als ausgesprochen sympathisch bezeichnen. Er war bisweilen sehr ironisch. Als er in späteren Jahren in London von einem BBC-Reporter gefragt wurde, was ihm an England am besten gefiele, antwortete er: „Die Hunde“. Eines Morgens fand Frau Ehrenburg einen Maulkorb vor der Zimmertür ihrer Pension. Offenbar gedacht für das lose Mundwerk ihres Gatten.

Ehrenburg sah sehr ungepflegt aus, es fehlten ihm einige Vorderzähne und die Knöpfe seiner Hosenträger. Alles an seinem Äußeren war in Unordnung. Böse Zungen behaupteten sogar, er hätte seine Hosen bei der Trauungszeremonie mit den Händen festhalten müssen, damit sie ihm nicht herunterrutschen. Daher habe er seiner Frau den Ehering nicht aufstecken können. Als eines Morgens ein Karton Seife vor der Tür stand, nahm Ljuba Ehrenburg es mit Humor und meinte, sie sei glücklich, nun endlich genügend Seife zum Waschen zu haben.

Ehrenburg verbrachte einen großen Teil des Tages im Café Prager Diele, wo er seinen Stammtisch hatte. Dort frühstückte er, und dort schrieb er auch seine Bücher. Abends versammelten sich viele Künstler, die ihn sehen wollten, in der Prager Diele. Eines Tages tauchte der berühmte Clown Wladimir Durow auf, mit dem Ehrenburg befreundet war. Er hatte eine kleine Holzkiste mitgebracht. Als er sie öffnete, kam seine Lieblingsratte „Finjka“ herausgekrochen, nahm auf Durows Schulter Platz und knabberte Cakes.

Ich hatte eine schlechte Kritik des Poems „Pugatschow“ von Jessenin geschrieben. Jessenin war einer der herausragenden Dichter jener Zeit, voller Leidenschaft für die Revolution. Wie viele russische Genies trank er unmäßig und machte auch durch gelegentliches Randalieren auf sich aufmerksam. Als ich abends in die Prager Diele kam, stellte mir Ilja Ehrenburg, der meinen Artikel kannte, einen hübschen russischen Bauernjungen mit blonden Locken vor, indem er sagte: „Wolodja, das ist der Dichter Jessenin.“ Es war mir sehr peinlich. Jessenin sagte mir lächelnd: „Ich finde, dass lhre Kritik sehr ungerecht war. Es ist ein schönes Poem.“ Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Jahre später verübte Jessenin, nachdem er noch ein letztes Gedicht geschrieben hatte, in seiner Leningrader Wohnung Selbstmord, indem er sich erhängte und zuvor noch die Pulsadern aufschnitt.

Ich schrieb auch Artikel für Zeitschriften in der Tschechoslowakei und Litauen. Der Dichter Schklar gab mir 2 Dollar, damit ich eine gute Rezension eines seiner Bücher schreibe, das ich im Grunde miserabel fand. 2 Dollar waren eine Menge Geld, da die deutsche Währung von Tag zu Tag verfiel. Man musste sämtliches deutsches Geld schleunigst ausgeben, weil es am nächsten Tag viel weniger wert war. Ehrenburg verspottete mich und riet mir, ich solle immer sofort die Hand ausstrecken, wenn mich ein Schriftsteller bittet, eine Kritik eines seiner Bücher zu schreiben.

Ljuba Ehrenburg war Kunstmalerin und das genaue Gegenteil ihres Mannes, zumindest was das Äußere betrifft. Sie war schön und sehr elegant. Auch nach der Hochzeit behielt sie ihren Mädchennamen Kosinzewa als Künstlernamen bei. Sie war so schlank, dass mein Redakteur Michail Osorgin meinte, er würde sie trotz ihrer Schönheit nicht umarmen wollen, weil er sich an ihren Knochen zerkratzen könnte.

Aus dem Sommerurlaub schrieb sie mir aus Spaß einen Brief mit roter Tinte: „Lieber Wolodja, ich schreibe Ihnen mit meinem Blute.“ Gelegentlich rief sie mich zu Hause an und sagte: „Wolodja, Sie müssen kommen, Ilja Grigorjewitsch langweilt sich." Wenn ich dann bei ihnen war, nahm mich Ilja Ehrenburg auf den Schoß und spielte einen Franzosen, der ein Straßenmädchen verfolgt, hob mich hoch und trug mich durchs Zimmer. Er sprach perfekt Französisch, da er lange Jahre in Paris gelebt hatte. Als Dichterin nahm mich Ehrenburg überhaupt nicht ernst, er machte sich lustig über mich.

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