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Daniel Barenboim.

© Holger Kettner

Eröffnung Musikfest Berlin: Ewige Avantgarde

Prekäre Liebesszenen: Daniel Barenboim und die Staatskapelle eröffnen das Musikfest Berlin mit Werken von Arnold Schönberg und erweisen sich als erhellende Erzähler mit bewundernswerter Konzentrationsfähigkeit.

„Ich weiß gar nicht, was immer für ein Gewese um diesen Schönberg gemacht wird“, wendet sich die elegant gekleidete Dame auf dem Weg zum Pausensekt an ihren Gatten, „diese Musik klingt doch großartig.“ Sicher, zu diesem Zeitpunkt hat die zufällig belauschte Besucherin nur den ersten Teil des Programms gehört, die spätromantisch „Verklärte Nacht“ nämlich, aus der Frühphase des Komponisten. Doch Daniel Barenboim und seine Staatskapelle werden sich auch bei den atonalen „Fünf Orchesterstücken“ sowie den zwölftönigen Variationen Opus 31 als eloquente Fürsprecher des Komponisten erweisen, der Maestro durchweg auswendig dirigierend, die Musiker mit bewundernswerter Konzentrationsfähigkeit. Langen, dankbaren Applaus erhalten sie dafür am Ende dieses Eröffnungsabends des Musikfests.
Drei Meister der Moderne stellt Winrich Hopp, der künstlerische Leiter, diesmal in den Mittelpunkt, drei Männer, auf für die Schönbergs Diktum zutrifft: „Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben.“ Gustav Mahler war derjenige unter den Wiener Komponisten, der an der Wende zum 20. Jahrhundert am stärksten unter den Auflösungserscheinungen der alten Ordnung litt – und am sensibelsten die kommenden Katastrophen vorausahnte. Im fernen Dänemark horchte währenddessen Carl Nielsen sehr genau auf die neuen Töne, die das aus Zentraleuropa herüberklangen und verarbeitete sie in seinen Sinfonien, die sangliche Melodik und befreite Rhythmen auf faszinierende Weise zusammen bringen. Arnold Schönberg schließlich, der jüngste des Trios, durchbrach – getrieben von einem manischen Ausdrucksfuror – die Grenzen der bis dahin als naturgegeben angesehenen Harmonik. Was ihm viele Klassikliebhaber bis heute verübeln. „Es war mir nicht bestimmt, in der Art der ,Verklärten Nacht’ weiterzumachen“, sagte er rückblickend. „Der Oberkommandierende hat mir eine härtere Strafe anbefohlen.“

Süßliche Harmonien und silbriges Pianissimo

In seinem Porträtkonzert macht Daniel Barenboim deutlich, welche enorme Strecke der Komponist auf diesem Kreuzweg zurückgelegt hat. Mit der ersten, von ihm selber als vollgültig erachteten Partitur, legt der Autodidakt gleich ein Meisterwerk vor: Ein Gedicht Richard Dehmels, in dem eine Frau ihrem Geliebten bei einem nächtlichen Spaziergang eröffnet, dass sie von einem anderen schwanger ist, und der Mann verspricht, das im Mutterbauch wachsende Menschenwesen als sein eigenes anzusehen, inspiriert Schönberg zu einem Streicherstück, das Wagners hypnotische „Tristan“-Klänge mit der Dichte von Brahms’ Kammermusik sowie Richard Strauss’ Konzept der sinfonischen Dichtung verbindet. Erhellend vermag Barenboim die prekäre Liebesszene in der Philharmonie nachzuerzählen. In fahlen Klangfarben evoziert die Staatskapelle den „kahlen, kalten Hain“ der Verse und das Licht des bleichen Mondes. Erst nach den erlösenden Worten des Mannes erlaubt der Dirigent seinen Musikern, Wärme in ihr Spiel einfließen zu lassen. Üppig blühen die Kantilenen auf, bis hin zu den süßlichen Harmonien, die später zum Hollywood-Standard für jede love scene werden sollten. Berückend schön verklingt das Werk im silbrigen Pianissimo.

Daniel Barenboim und die Staatskapelle in der Philharmonie.
Daniel Barenboim und die Staatskapelle in der Philharmonie.

© Holger Kettner

Ungemein frisch lässt Barenboim dann die Fünf Orchesterstücke wirken: Nach dem Bruch mit dem Dur-Moll-System erzählt hier jeder Takt vom Glück der neuen Freiheit. Die Nichts-Muss-Alles- Kann-Regel gilt bis heute – doch wenig, was zur Uraufführung kommt, klingt wirklich avancierter als diese 106 Jahre alte Suite. Als Sackgasse erwies sich dagegen Schönbergs Idee, die 12 Töne der Oktave in ein neues Korsett zu zwingen. So transparent die Staatskapelle das komplexe kontrapunktische Gewebe der Orchestervariationen auch ausführt, ein Restunbehagen bleibt, ein Gefühl von Sterilität und mathematischer Ausgezähltheit.
Das Musikfest läuft bis zum 20.9., weitere Infos: www.berlinerfestspiele.de

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