zum Hauptinhalt

Kultur: Erotik fremd

Es gab Zeiten, da galten Stücke von Maurice Béjart als absolute Trumpfkarten in der Hand eines jeden Ballettdirektors, galt doch die Verschwisterung klassischer Grundlagen mit einigen Elementen der Moderne als ideale Mischung: Avantgarde im Anspruch, Tradition im technischen Fundament.Inzwischen freilich ist die Entwicklung weitergegangen.

Es gab Zeiten, da galten Stücke von Maurice Béjart als absolute Trumpfkarten in der Hand eines jeden Ballettdirektors, galt doch die Verschwisterung klassischer Grundlagen mit einigen Elementen der Moderne als ideale Mischung: Avantgarde im Anspruch, Tradition im technischen Fundament.

Inzwischen freilich ist die Entwicklung weitergegangen.So manche revolutionäre Choreographie von einst wirkt ein wenig angejahrt.Das gilt ganz gewiß für Béjarts 1959 uraufgeführte Version von Strawinskys "Le Sacre du printemps".Kein schmerzvoller Todestanz - wie etwa bei Pina Bausch - wird in diesem "Frühlingsopfer" zelebriert, sondern die orgiastische Vereinigung von Mann und Frau.Die Choreographie kreuzt konvulsivische Zuckungen, tierhafte Bewegungen mit geometrischen Raummustern.Das ergibt unterm Strich eine etwas steife, spätexpressionistische Theatralik, die mehr behauptet, als sie einlösen kann.Dabei ist den Tänzern des Tokyo Ballett mit den Solisten Yukie Iwaki/Shiori Sano und Yasuyuki Shuto/Kazuo Goto kaum ein Vorwurf zu machen.Sie exekutieren Béjarts graphischen Stil mit größtmöglicher Präzision.Daß sich die Dynamik immer wieder an kopfgeborenen Raumformationen bricht, ist wohl dem Entstehungsjahr des Werkes geschuldet.

Eher bei sich und seinen Möglichkeiten erscheint der ehemalige Begründer des Brüsseler "Ballet du XXe siècle" in Strawinskys "Petruschka" von 1977.Zwar hat er auch hier weitestgehend auf jedes folkloristische Beiwerk verzichtet, doch treibt er die Abstraktion nicht in einen sterilen Formatismus wie im "Sacre".Die Entschlackungskur strafft Handlung und Rollen, auch wenn die Mutation des Mohren zum Gorilla nicht unbedingt zu den geschmackvollsten Ideen zählt.Schnell wird deutlich, wo schon immer Béjarts Stärken lagen: in den kraftvollen Männersoli (eher als in den Frauenparts) und den dynamischen Ensembleszenen.Klar legt er den Handlungsfaden aus und verwebt ihn mit treffsicheren Schaueffekten.Auch dieses Stück präsentiert das Tokyo Ballet mit Yukie Iwaki, Yasuyuki Shuto, Kazuo Kimura und Naoki Takagishi an der Spitze mit Spielfreude und Präzision.

Wenn das Programm den Abend nach der zweiten Pause mit Ravels "Bolero", choreographiert 1960, beschließt, setzt es zielstrebig auf einen Dauerbrenner im Repertoire des Meisters.Béjart übersetzt das endlose Umkreisen des Themas in einem stetig steigenden Crescendo in eine denkbar einfache und effektvolle Choreographie.Ein Mann (wahlweise eine Frau) auf einem großen roten Tisch verkörpert die Melodie, die von den mehr als dreißig Männern am Boden immer mehr bedrängt und schließlich in den Kollaps getrieben wird.Tatsächlich wirkt das Werk wie das eigentliche "Frühlingsopfer".Der Weltbürger Béjart verknüpft in ihm unverhohlen erotische Anspielungen mit indisch inspirierten Armgesten, steigert das endlos rollende Wiegen des Körpers bis zum Höhepunkt.Beim "Ballet du XXe siècle" war das über lange Jahre unter anderem eine Paraderolle für Jorge Donn, der sie mit einer provokanten androgynen Laszivität tanzte.Auch das Tokyo Ballet besetzt die Hauptrolle mit einem Nannj (Naoki Takagishi).Ihn und seinen Mitstreitern mangelt es dabei nicht an der notwendigen Kraft, den anstrengenden siebzehnminütigen Part durchzustehen.Allein die offen werbende Erotik, der Genuß am eigenen Leib scheint den Japanern einigermaßen fremd.

NORBERT SERVOS

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false