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Kultur: Erster Mai, alles high

Jerofejews „Walpurgisnacht“ an der Berliner Schaubühne

Die Schaubühne, der Hightech-Tempel unter Berlins Bühnen, hat sich für Árpád Schillings Inszenierung „Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs“ in ein altes, ein ganz altes Theater verwandelt. Der rote Vorhang ist von Brandlöchern und Motten zerfressen, die grünen Kacheln auf dem Betonboden bröckeln vor sich hin (Bühne: Márton Ágh). Wir sind an einem Ort gelandet, der seine Zukunft schon lange hinter sich hat. Das liegt nicht nur daran, dass Wenedikt Jerofejews Stück irgendwann in den achtziger Jahren in der Sowjetunion spielt, seine Figuren sind in einer heruntergekommenen psychiatrischen Klinik irgendwo in der Provinz gelandet, ihre besseren Tage, wenn sie je welchen hatten, sind längst vorbei. An diesen tristen Ort hat es Gurewitsch verschlagen, einen heruntergekommenen Gossenphilosophen und bekennenden Trinker, ein im Alkoholdämmer verlorener Anarchist, der sich allen Autoritäten, Ärzten und staatlichen Aufsichtsichtsorganen durch forcierte Selbstzerstörung zu entziehen versucht.

Mit dieser Figur hat Wenedikt Jerofejew ein illusionsloses Selbstporträt gezeichnet. Wie Gurewitsch setzte der Autor der sowjetischen Disziplinar- und Arbeitsgesellschaft den Wodka und ein torkelndes Bohemeleben entgegen, Asozialität als Lebenskunst. Mit seinem Kultpoem „Die Reise nach Petuschki“, in dem er den Exzess, den Suff und die Abstinenz von allen politischen Idealen feiert, wurde er zum Undergroundstar der Breschnew-Ära, ein Charles Bukowski der Sowjetunion, der sich 1990, mit gerade zweiundfünfzig Jahren zielsicher zu Tode getrunken hat.

An der Schaubühne spielt Falk Rockstroh den Wodka-Anarcho, ein nicht mehr ganz junger Mensch mit zerknittertem Gesicht und spärlichen Locken, eine abgerissene Erscheinung mit glasigem Blick, die wie ein schwankendes Fragezeichen im Dauerdelirium vor den Ärzten und Pflegern steht. Alle Disziplinierungsversuche des Arztes (Alexander Schröder) wie des robusten Pflegers (Mark Waschke) scheitern an dieser Alkoholleiche. Das Anamnesegespräch vor dem roten Theatervorhang liefert ein schönes Beispiel eleganter Kommunikationsverweigerung. Der neue Patient denkt nicht daran, irgendetwas von den lästigen Dingen, mit denen ihn die Wirklichkeit behelligt, ernst zu nehmen. Schilling, der junge ungarische Regisseur, der zum ersten Mal in Deutschland inszeniert, erlaubt sich einen kleinen Ausflug in das Pathos der Allegorie und verwandelt das Aufsichtspersonal für einen Moment in römische Herrscher. Der Arzt thront in weißer Toga als Cäsar mit Eichenlaub über der Bühne, eine Schwester wird zur römischen Herrin (oder zu einer Madonna in weiß), der Pfleger mutiert zum Legionär mit Brustpanzer - kleiner harmloser Scherz aus dem Kostümfundus. Doch dann öffnet sich mit gemächlichem Ruckeln der Vorhang und gibt den Blick frei auf die Krankenstation, ein grünes Verlies mit rostigen Eisenbetten, vergammelten Matratzen und noch vergammelteren Insassen. Ein feistes Riesenbaby (der beeindruckende Udo Kroschwald) kämpft mit seiner Verdauung, thront schwitzend auf der Kloschüssel und presst sich Schachfiguren, die er in einem Anfall von Heißhunger verschlungen hat, aus seinem Verdauungstrakt. Ein schmaler, verlorener Mensch mit fiebrigem Blick und manierlichem Seitenscheitel (André Szymanski) tigert über die grünen Fliesen, ein rasender Stillstand treibt ihn zu immer neuen Gängen. Ein anderer mit dicker Brille und unkontrolliertem Rededrang (Andreas Grothgar) schwadroniert von KGB-Verschwörungen, von der Kontrolle, die er über das Imperium der Psychiatrie ausübt, von Verrätern, die man bestrafen muss und von Juden, die die gute russische Ordnung stören.

Die Allegorie ist klar und ziemlich abgestanden: Die in der langen zähen Depression der Breschnew-Jahre erstarrte Sowjetunion verwandelt sich in eine geschlossene Anstalt mit nicht resozialisierbaren Insassen und rabiaten Aufsehern. Nachdem diese Grundsituation etabliert ist, treten Stück und Inszenierung auf der Stelle. Es kommt, wie es kommen muss: Ausgerechnet am ersten Mai entwendet Gurewitsch eine Flasche Methylalkohol und unter Aufsagen wirrer Welteroberungsreden stürzt man das Gift hinunter, am Ende sind alle zuerst betrunken und dann tot. Das könnte komisch oder traurig sein, von verstörender Kaputtheit oder fröhlichem Zynismus, aber an der Schaubühne ist es vor allem ordentliches, sauber gepflegtes Stadttheater, ein Produkt deutscher Theaterwertarbeit, in dem jede Szene akkurat poliert, jede Figur sorgfältig präpariert ist, bleischweres und etwas dumpfes Elendsillustrationstheater. Nichts davon, nicht einmal der flackernde Irrsinn André Szymanskis berührt den Zuschauer. Falk Rockstroh gönnt seiner Figur nach einem zarten, zerbrechlich verlorenen ersten Auftritt vor den herrischen Ärzten keine Entwicklung mehr, was zuerst spannend wirkte, schrumpft im Lauf der Aufführung zum eindimensionalen Klischee der versponnenen Schnapsleiche, der zuzusehen auf Dauer recht ermüdend ist.

Wieder am 22.12., 8. und 9.1.

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