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Kultur: Erwachen zu einer neuen Dämmerung

Zwischen Plüschsesseln und Plastikklappstühlen: das Festival von Edinburgh Theatergastspiele aus Indien, Pakistan und China - Beckett so populär wie ShakespeareVON IGAL AVIDANAb Mittag bewegt sich auf Edinburghs High Street nichts mehr.Innerhalb von Minuten pressen sich etwa 100 Zuschauer um einem halbnackten Jongleur, der seine drei Fackeln immer höher in die Luft wirft.

Zwischen Plüschsesseln und Plastikklappstühlen: das Festival von Edinburgh Theatergastspiele aus Indien, Pakistan und China - Beckett so populär wie ShakespeareVON IGAL AVIDANAb Mittag bewegt sich auf Edinburghs High Street nichts mehr.Innerhalb von Minuten pressen sich etwa 100 Zuschauer um einem halbnackten Jongleur, der seine drei Fackeln immer höher in die Luft wirft.Manchmal landet eine auf dem Boden.Lauter Applaus kommt von gegenüber, wo zwei Pantomimen mit einem alten Kassettenrecorder ein kleines Mädchen bezaubern.Dazwischen quetschen sich zahlreiche Touristen vor der Kasse des Fringe-Festivals, des größten Kultur-Ereignisses der Welt.Einige blättern durch das Fringe-Programm in der Hoffnung, unter den 1278 Veranstaltungen (Theater, Revue, Tanz, Musik, Oper und ein Kinderprogramm) ihr Erlebnis des Tages zu finden.Andere lassen sich von den Künstlern überreden, die an der Schlange vorbeilaufen, ihre eigene Show anpreisen und dabei mehr überzeugen als auf der Bühne.Aber das gehört eben zu diesem Off-Festival, das auch nach 50 Jahren ein produktives Chaos schafft. Kultur und Ordnung bietet hingegen das offizielle Programm, was ein paar Straßen weiter auch manche deutsche Touristen erfreut.Die Hälfte der Besucher dieser aufwendigen Shakespeare-Produktion von Stephan Braunschweigs "Measure for Measure" haben ihre Eintrittskarten vor drei Monaten gebucht.Daher können sie nun in Ruhe auf eleganten Plüschsesseln das glänzende Abendprogramm durchblättern.Im "Fringe" gibt es nur Flugblätter und Plastikklappstühle.Die Schauspieler müssen für ihre Reise und Unterkunft selbst aufkommen, den Saal mieten und eine Provision an die Fringe Society zahlen, um in den Katalog zu kommen.John Cleese, Derek Jacobi und Emma Thompson begannen hier ihre Karrieren, aber auch viele dilettantische Künstler haben versucht, es ihnen hier gleichzutun. Das "Edinburgh International Festival" hingegen verspricht Qualität.Alle Künstler werden eingeladen (und gut bezahlt), Orchester sogar fünf Jahre im voraus.Alle Aufführungen müssen eine britische Premiere sein.Manche Produktionen werden in Auftrag gegeben und feiern eine Weltpremiere in zehn Theatern, die für den ganzen August gemietet wurden.Das aufwendige Programm bietet Oper (zum Beispiel "Ariadne auf Naxos" von Richard Strauss), Tanz (das San Francisco Ballet), Musik (eine Bach-Reihe, Kammermusik sowie "Black on White" von Heiner Goebbels) und Theater (Peter Stein inszeniert Tschechows "Kirschgarten" als "The Cherry Orchard") sowie eine Diskussion- und Vortragsreihe mit den prominenten Gästen. Umsonst ist so ein Programm gewiß nicht zu haben, für umgerechnet 18 Millionen Mark aber schon.Die Stadt Edinburgh und das Scottish Arts Council decken rund 40 Prozent der Kosten, ein Drittel kommt aus dem Kartenverkauf.Um junge Zuschauer anzulocken, werden bei vielen Veranstaltungen auch Tickets zu reduzierten Preisen von umgerechnet 15 Mark angeboten.Das gelingt aber nur teilweise, denn die meisten im Publikum sind eben so alt wie das Festival selbst. Auf Polstern läßt es sich nicht nur bequem sitzen, sondern auch angenehm einnicken, was ich im zweiten Teil von Shakespeares "Maß für Maß" erfahren habe.Zu blaß war der Auftritt des Hauptdarstellers Jim Hooper als der in Mönchskutte verkleidete Herzog, der seinen korrupten Stellvertreter Lord Angelo stürzt und die Todesstrafe Claudios aufhebt.Dieser wurde wegen Unzucht (er hat seine Freundin geschwängert) verurteilt.Im ersten Teil beeindruckte noch das Bühnenbild: eine riesige, rotierende Trommel, die unendlich viele Metalltreppen offenbart, auf denen gespielt wird.Am besten ist hier Lise Stevenson als Claudios Schwester, eine Novizin mit erotischer Ausstrahlung, die ihren Bruder retten kann, wenn sie dem Herzog das gibt, was er will (er nennt das "Liebe"). Wach und ganz zufrieden war ich dagegen bei "A Tainted Dawn" von Sudha Bhuchar und Kristine Landon-Smith.Diese Bearbeitung von acht Geschichten über die Teilung Indiens und Pakistans vor 50 Jahren feierte hier eine Weltpremiere.Der Titel ist eine Anspielung auf Nehrus berühmte Rede: "Indien wird zu einer neuen Dämmerung erwachen".Auf der Bühne wird aber nicht gefeiert, sondern gelitten, und das machen die acht Schauspieler, alle britische Inder und Pakistani, glänzend.Freunde werden über Nacht Feinde, ein Liebespaar trennt sich, ganze Familien müssen fliehen, weil sie zu Moslems oder zu Hindi gemacht werden, auch wenn sie selbst ungläubig sind. In den Mittelpunkt stellten die Autoren das Kind Pali, das im Chaos der Flucht aus Pakistan von seinen Hindu-Eltern verloren und von moslemischen Nachbarn adoptiert wurde.Sie nennen ihn Altaff und machen aus ihm einen guten Moslem.Sieben Jahre später findet ihn endlich sein Vater.Der Adoptivvater will ihn nicht zurückgeben, nur die Mutter gibt schließlich nach.Im Hindu-Dorf feiern die Eltern mit ihren Nachbarn ihren "neugeborenen" Sohn.Plötzlich verläßt Pali die singende Gruppe, legt einen kleinen Teppich auf den Boden und betet zu Allah.Die empörten Nachbarn verlassen das Haus, die Eltern versuchen Pali zu erklären, daß "wir hier etwas anders beten". Aus China kam "East Palace, West Palace" von Zhang Yuan, der nicht ausreisen durfte.Dieses Theaterstück über Homosexuelle wird in China wohl nicht aufgeführt, auch aufgrund seiner versteckten Kritik an der Polizei.Die Paläste sind zwei öffentliche Toiletten, die einem homosexuellen Schriftsteller als Treffpunkt dienen.Als er von einem Polizisten dabei erwischt wird, beginnt ein langes Spiel zwischen dem masochistischen Schwulen und dem autoritären Polizisten, der ihn für seine eigene verdrängte Lust bestraft.Am Ende wälzen sich beide im Wasser, aber keine erotische Bekehrung des Ordnungshüters folgt, was politisch gesehen nicht in Ordnung wäre. Völlig versteinert saß ich bei "Adolf".Denn der englische Darsteller Pip Utton sieht nicht nur wie Hitlers Zwilling aus, sondern brüllt auch noch so laut.Gut, sein Englisch ist etwas besser.In dieser "Fringe"-Produktion schreit uns der unverbesserliche Diktator aus nächster Nähe an, wie wir die Juden und Bolschewisten ausrotten und die westlichen Demokratien an der Nase führen sollen, um seinen Kampf zu vollenden.Dann verwandelt sich Utton plötzlich zum sympathischen, britischen Rassisten, der lediglich "England für die Engländer" will.Nach der Vorführung erzählte er mir von einem alten Zuschauer, der ihn als Hitler voller Haß anschaute, jedoch applaudierte, als der "britische" Utton gegen die Juden schimpfte.Uttons Angst, daß Neo-Nazis in seine Show strömen werden, erwies sich als unbegründet.Aber er hätte sich mehr als 16 Zuschauer erhofft. Absolut voll war der große Saal des Traverse Theatre bei "Anna Weiss", die mit mehreren Preisen gekrönt wurde.Zu Recht.Es geht um falsche Erinnerungen, um Kindesmißbrauch und um die Rolle des Therapeuten.Lynn ist aufgeregt, denn sie erwartet ihren Vater David, den sie seit einem Jahr nicht gesehen hat.Um Lynn sehen zu dürfen, zwingt ihn Anna zu versprechen, auf Lynns Vorwürfe nicht zu reagieren.Dann trägt ihm Lynn aus dem Protokoll vor, wie er sie jahrelang mißbraucht hat ("als du mir gesagt hast, es war nur meine Phantasie, habe ich dir geglaubt").Als Lynn schildert, wie David sie zur Prostitution gezwungen hat, bricht er sein Versprechen und wirft Anna vor, sie habe das Protokoll verfaßt.In einem dramatischen Moment stürzt sich David auf Anna, und sie gibt zu, auch ihr Vater habe sie mißbraucht.Ist also Anna pervers und nicht David? Wurde überhaupt Lynn mißbraucht? Eine klare Antwort bekommen wir nicht, dafür viel Stoff zum Nachdenken. Samuel Beckett ist in Edinburgh fast so populär wie Shakespeare, und das amerikanische Action Theatre hat einen unvergeßlichen Beckett-Abend präsentiert.Auf einem Geister-Karneval spielt man sechs kurze Beckett-Stücke, alle amüsanter als "Warten auf Godot".Es geht in "Catastrophe" um einen Regisseur, der mit Hilfe einer Assistentin einen absolut passiven Schauspieler gestaltet; und in "Theater I" um eine absurde Liebe zwischen zwei Pennern: Der eine hat nur ein Bein, der andere ist blind, so wie die Theaterkritiker in ihrer Heimatstadt Baltimore, die diese Gruppe schlichtweg ignorieren.In Edinburgh hingegen bekam sie die höchste Anerkennung: eine Fünf-Sterne-Rezension in "The Scotsman".

IGAL AVIDAN

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