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Geschonneck

© Ullstein

Erwin Geschonneck: Der Urkräftige

"Ich dien’!", das war der Leitspruch seines Vaters. Doch irgendwann beschloss Erwin Geschonneck, genau das nicht zu tun. Zum Tod eines großen Schauspielers.

Derselbe Jahrgang wie Billy Wilder, Hannah Arendt, Dietrich Bonhoeffer, Josephine Baker. Derselbe Jahrgang auch wie Adolf Eichmann. Geboren 1906. 101 ist er geworden. Das war er sich schuldig.

Er hatte gleich nach dem Christkind Geburtstag, und viel anders als bei dem sah es an der Wiege des Erwin Geschonneck auch nicht aus. Und wie dort ahnte keiner, was aus ihm einmal werden würde.

Der Flickschuster Otto Geschonneck und seine Frau, wohnhaft in einem „klitzekleinen Haus“ (Geschonneck) in Bartenstein, Ostpreußen, bekommen am 27. Dezember 1906 noch einen Sohn. Der ist nur krank, der kommt nicht durch, fürchten die Eltern. Die Familie zieht nach Berlin. In die Ackerstraße 6/7, Mitte, Seitenflügel, urproletarisches Berlin, Prostitution allgegenwärtig. Hier wird Erwin Geschonneck groß, bald ohne Mutter. Der alleinerziehende Flickschuster wird Nachtwächter. Aber was heißt „alleinerziehend“? Das stimmt nur, insofern man gewillt ist, das Austeilen von Schlägen Erziehung zu nennen. Erwin, der Jüngste der Familie, schläft im Bett seines Vaters. In dem Milieu, aus dem er kommt – als er größer ist, wird er es Klasse nennen –, hat nicht jeder ein eigenes Bett.

Immerhin, es ist noch warm, wenn der Vater zur Arbeit und Erwin schlafen geht. Aber man muss ganz schnell einschlafen, denn auch im Bett riecht es nach des Nachtwächters großer Leidenschaft, dem Alkohol. Ein Bild aus seiner Schulzeit zeigt den Jungen ohne Hemd unter der Schuljacke. Die Lehrer wissen schon, was aus dem schwächlichen, verlausten Kind mit den grotesk krummen rachitischen Beinen einmal werden soll: gar nichts.

Auf dem Koppelschloss seines trinkenden Nachtwächtervaters steht „Ich dien’!“. Irgendwann beschließt Erwin Geschonneck, dass er nie solche Koppelschlösser tragen wird. Er wird grundsätzlich Nicht-Dienende spielen. Er wird das proletarische Kraftgenie der Defa. Und das wird nicht gespielt sein. Der Mann mit dem Jahrhundertleben wird Jahrhunderterfahrungen darstellen, seine eigenen.

Weil sein aberwitziges Leben ihm aus den Augen schaute, wenn er spielte. Niemand wird sagen können „Agitation und Propaganda“, nicht einmal bei dem Mansfelder Bergmann Brosowski in Kurt Maetzigs „Die Fahne von Kriwoi Rog“ von 1967.

Irgendwann in den frühen 20ern schreibt der Bergmann den Kumpels im sowjetischen Kriwoi Rog einen Brief, so einen Arbeiter-Solidaritätsbrief. Und dann schicken die aus Kriwoi Rog tatsächlich eine Fahne, und die Fahne wird der ganze Stolz der Bergmannsfamilie. Aber als das Mansfelder Land zum Nazi-Land wird, wird es schwer mit der Fahne. Und das große Fahnenverstecken beginnt. Dass man diesen Film heute noch ansehen kann, liegt an ihm, an Erwin Geschonneck.

Ob als Kalle in „Karbid und Sauerampfer“ zuvor oder viel später als böser Großbauer in „Levins Mühle“ – ja, er konnte auch die Ausbeuter und Unterdrücker spielen, und wie er das konnte –, er blieb doch immer derselbe, Erwin Geschonneck. Und wenn wir nur die Filme von ihm hätten, die er mit dem Regisseur Frank Beyer drehte: Wenn er nur der Friseur Kowalski in der oscarnominierten Warschauer-Ghetto-Geschichte „Jakob der Lügner“ (1974) geworden wäre und der KZ-Häftling Krämer in „Nackt unter Wölfen“ (1963) – es würde reichen für ein Stück Defa-Unsterblichkeit. Und noch für ein ganzes Stück mehr.

Nur wenige schienen so unverletzbar wie er. Ein Mann wie eine Souveränitätserklärung. Lag es am Äußeren, lag es an der Stimme? Hans-Albers-rauh der Ton, Heinrich-George-spröde die Schale. Keine Spur mehr von Rachitis. Die Urkraft, die aus irgendetwas Weichem darunter kommen musste, war gut gesichert. Und irgendeine Urkraft musste in ihm wohnen.

Das begriff jeder, der ihn da so die leere Straße entlangkommen sah, pfeifend, weitausschreitend, voller Zuversicht. Eine Urszene. „Karbid und Sauerampfer“ also, Frühjahr 1945. Er ist ganz allein, aber er füllt die Straße. In Wittenberge, hat dieser Kalle gehört, soll es noch ein paar Fässer Karbid geben – das wird gebraucht zum Schweißen in seiner kaputtgebombten Dresdner Zigarettenfabrik, also muss er dorthin. Zu Fuß, wie sonst im Frühjahr 1945. Die Mission ist vollkommen aussichtslos, aber zuversichtlicher als Kalle kann man nicht aussehen. Als läge das Leben vor ihm wie diese Landstraße. Als brauche er nur immer weiter geradeaus zu gehen.

Erwin Geschonneck geht es im Frühjahr 1945 ungefähr wie seinem Kalle im Film. Er hat alles noch vor sich, dabei ist er fast 40. Das Leben, offen wie eine Landstraße. Aber das käme wohl jedem so vor, der das überlebt hat, was er überlebt hat. Sechs Jahre Konzentrationslager. Eben noch, im April 1945, war er an Bord eines der vier großen KZ-Schiffe in der Lübecker Bucht. Einer von 4600 Häftlingen auf der „Cap Arcona“, dem einstigen Flaggschiff der Hamburg-Südamerika-Linie. Am 3. Mai bombardieren die Briten den 28 000-Tonner, auf der die Ufa gerade den „Untergang der Titanic“ gedreht hatte. Die „Cap Arcona“ sinkt. Fast alle ertrinken, noch jetzt im Mai 1945, als der Krieg im Grunde schon vorbei ist. Von 4000 Häftlingen überleben nur 350.

Und doch hat er im Frühjahr ’45 ein Problem. Fast 40 ist er also, und er will Schauspieler werden. Das weiß er, seit er schon mal einer von 4000 war. Einer von 4000 Statisten im ersten proletarischen Film, in Slatan Dudows „Kuhle Wampe“ (Skript: Brecht und Ottwalt, Musik: Hanns Eisler). Aber nur im Schlussbild.

Auch der Zeitpunkt war damals ungünstig. „Kuhle Wampe“ hatte Ende Mai 1932 Premiere. Man kann nur ein guter Schauspieler werden, wenn man nicht zu viel mit dem wirklichen Leben beschäftigt ist. Aber er war es. Nur ein Jahr noch, dann ging das KPD-Mitglied Erwin Geschonneck ins Exil.

Der Zeitpunkt war eigentlich immer gegen ihn gewesen. Kaum war er Lehrling des Bankhauses der Gebrüder Arnold in Berlin, kam die Inflation 1923. Ende der Bankkarriere. Hilfstischler sind krisenfester. Also Hilfstischler beim Zirkus Busch und später Hausdiener, auch Hutmodell und Sandwichman. Doch waren das alles keine guten Tätigkeiten für einen bekennenden Nichtdienenden.

Die erste Station seines Exils heißt Oswiecim, Auschwitz. Dorthin geht seine jüdische Theatertruppe, weil einer von ihnen in Auschwitz eine Tante hat. Sie kommen bis in die Sowjetunion, gründen ein „Deutsches Theater“ in Dnepropetrowsk und später in Odessa. Sie spielen Tschechow, Kleist, Friedrich Wolf und sowjetische Gegenwartsstücke, da wird Geschonneck aufgefordert, binnen zwei Tagen die Sowjetunion zu verlassen. Immer wieder, in Odessa wie schon in Dnepropetrowsk, waren Theatermitglieder verschwunden.

Eine ganze Zugfahrt lang zurück nach Prag denkt er darüber nach, was geschehen ist und versteht gar nichts. Am 31. März 1939 wird er an der tschechisch-polnischen Grenze verhaftet. An einem eiskalten Wintertag 1940 verliert er bei einem Zählappell in Sachsenhausen die Nerven und brüllt: „Nieder mit dem Faschismus! Es lebe die Kommunistische Partei Deutschlands! Es lebe die Weltrevolution!“ Er wird sofort bewusstlos geschlagen. Aber nicht von der SS, sondern von einem Mitgefangenen. Der SS-Scharführer hatte nur die schreiende Stimme gehört, nicht die Worte. Erst später begreift Geschonneck, in welche Lage er die anderen gebracht hat und ist beinahe dankbar für die Schläge.

Selten wirkt ein grundsätzlicher Mensch so ungrundsätzlich wie Geschonneck in seinen Filmen. Das Ungrundsätzliche ist die Ausstrahlung des Menschlichen, es ist das Wissen um die Relativität der Dinge. Vielleicht hat er das alles nirgends so erfahren wie im Konzentrationslager, auch in den langen Gesprächen mit manchen der 200 unbotmäßigen Geistlichen im Lager Dachau, unter ihnen der spätere Probst von Berlin Heinrich Grüber und Martin Niemöller. Geschonneck war Blockältester des „Pfarrerblocks“. Vielleicht hat er sogar seinen hintergründigen, kargen Witz aus dem Lager. Das Lachen kommt aus demselben Wissen und ist manchmal nicht weit weg vom Galgen.

Gestern ist Erwin Geschonneck in Berlin gestorben.

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