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Leben im Exil. Der Schriftsteller Gerschon Schoffmann mit seiner Frau.

© Gnazim Institute, Hebrew Writers Assosciation / Droschl Verlag

Erzählungen von Gerschon Schoffmann: Mit vollen Lungen die Ferne atmen

Eine Entdeckung: Ausgewählte Texte des österreichisch-israelischen Erzählers Gerschon Schoffmann sind erstmals auf Deutsch zu lesen.

Melancholisch klingt der Titel und vertraut, da doch jeder erfährt, dass Glück vergeht. Manchmal aber vergeht auch das Unglück, das private zumindest, und einem höchst bedrohten Leben gelingt die Rettung für immer. Gerschon Schoffmann, 1880 in Weißrussland in eine fromme jüdische Familie geboren, erfuhr den Antisemitismus von Kind auf. Als junger Mann in den zaristischen Militärdienst gezwungen, desertierte er nach Galizien, hauste arm und staatenlos in Lemberg, Wien und Graz, aber es gelang ihm, kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 mit seiner Familie nach Palästina zu emigrieren, wo er 92-jährig starb. Während er in Mitteleuropa fast unbekannt blieb, wurde er in Israel als bedeutender Schriftsteller empfangen und mit Preisen ausgezeichnet.

Schoffmann begann früh zu schreiben und wechselte trotz der Wanderung durch die Länder nie die Sprache: Hebräisch. Damit blieb er außerhalb der russischen, jiddischen und österreichischen Literaturszenen. Seine Texte erschienen in den jüdischen Zeitungen und Zeitschriften Europas, meist waren sie dem Medium angepasst, also kurz, und Geld und Ruhm ließen sich damit nicht erwerben. Auch erfüllten sie nur selten die üblichen Erwartungen an eine Erzählung, es blieb bei Skizzen, Miniaturen, Anekdoten, Porträts.

Alle berichten vom jüdischen Leben, genauer gesagt: vom eigenen, durch andere Namen maskiert, und das hieß: von Fremdheit, Außenseitertum, Erniedrigung, Gefahr, gleichgültig, ob der nahe Fluss Dnjepr hieß oder Donau, ob die Umgebung ländlich-kleinstädtisch war wie in der Kindheit oder später die Hauptstadt eines Vielvölkerstaats. Identität wird erfahren im Bewusstsein der Abweichung, den jüdischen Bräuchen gelten wehmütige Erinnerungen.

Abrupte Wechsel von Ort und Zeit

Der Großvater war ein angesehener Rabbi, für den Enkel scheint das Judentum eher als Lebenssituation denn als religiöse Überzeugung bestimmend gewesen zu sein; vom Besuch westlicher Synagogen, vom Kontakt mit einer Gemeinde ist nirgends die Rede. Undenkbar jedoch, die frühen, prägenden Bindungen zu verlassen, auch wenn sie Schmerz bedeuten: „Das ist das Schicksal dieser Nation in den Ländern ihrer Zerstreuung. Flucht von Staat zu Staat. Ewig jähe Panik. Über die Grenze, über die Grenze.“

Schoffmann gelingt es, diese häufig beschriebene Situation auf ungewöhnliche Weise darzustellen. Seine Kennzeichen sind die Abschweifungen, die abrupten Wechsel von Ort oder Zeit, die unerwarteten Brüche. Lose Enden überall, zu fragilen Strukturen verknüpft, deren Unruhe von innen nach außen vibriert und leichten Schwindel erzeugt.

So erinnert sich etwa der Erzähler in der Titelgeschichte, wie er als Kind dem großen Bruder Mosche, der im Nachbarort Lehrer ist, die ersten Schreibversuche vorlegt und zitternd seine Reaktion erwartet. Ausbleiben kann sie nicht; selbst wenn Mosche nicht reagiert, ist das eine Botschaft, aber der Leser erfährt nur das Zittern. Zwei Sätze weiter befinden sich die Brüder schon auf dem Weg zu Ascher, dem Schankwirt. In dieser Art springt die Handlung voran. Selten nur kann man den nächsten Satz erraten, das sorgt für eine unterschwellige, nervöse Spannung.

Liebe und Enttäuschung als dominierende Themen

In den Blicken der Einheimischen liest er die Ablehnung, kein Wunder, dass er die Gesellschaft jener sucht, die randständig sind wie er selbst: „Mit vollen Lungen atmete er in der Ferne, im Ausland, in Gesellschaft der Fremden. Mit allerlei Gefährten verbrachte er seine Zeit. Er hängte sich an ein junges Paar, bemüht, aus den Augen der Frau, die sich an ihren Ehemann schmiegte, einen guten Blick auch für sich zu ergattern …“

Liebe, die dringlich gesucht wird und sich als Illusion erweist, als Lüge auch des Erzählers gegenüber Frauen und Freunden, ist ein dominierendes Thema. Wechselnde, immer wieder enttäuschende Beziehungen und Begegnungen treiben die Protagonisten durch die Stadt, Ruhelosigkeit und Hast bestimmen den Ton der Texte und beschleunigen die Lektüre. „Es ist die Schönheit, die unser Wesen wie ein Blitz streift … Im Nu vergaß er die ganze Welt. Das einmal erlangen – und in Ruhe sterben. Anstelle all der Leiden ist das uns gegeben. Das Dasein verläuft doch nicht rundum blind!“

Immer drängt Schoffmann vorwärts

Ein Blick genügt, schon werden die Wünsche zur Plage, und da das Geld fehlt, bleiben die Prostituierten, die im Abenddämmer auf den Bänken des Stadtparks sitzen und auf Freier warten, unerreichbar. Schoffmann ist ein Autor mit schmalem thematischem Reservoir, aber die Kunst, Ähnliches noch einmal neu zu schildern, hat er weit entwickelt. Immer drängt er vorwärts, selbst die summierenden allgemeinen Aussagen werden sekundenschnell gezogen und sind eher Seufzer als Erkenntnisse.

In Israel erschien 1960 eine Gesamtausgabe seiner Erzählungen in fünf Bänden. Die nun von Ruth Achlama sensibel übersetzte Auswahl umfasst Texte aus den Jahren 1914 bis 1942, das Nachwort von Gerald Lamprecht, Leiter des Centrums für Jüdische Studien in Graz, erhellt den biografischen Hintergrund. Es ist der erste Versuch, diesem Autor dort Resonanz zu schaffen, wo er gelebt hat, und zu hoffen ist, dass weitere Bände folgen werden. Gerschon Schoffmanns eigenwillige Stimme kennenzulernen, ist ein Gewinn.

Gerschon Schoffmann: Nicht für immer. Erzählungen. Droschl Verlag, Graz 2017. 352 Seiten, 25 €.

Gisela Trahms

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