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Die Schriftstellerin Luise Boege, Jahrgang 85.

© Tobias Neumann

Erzählungen von Luise Boege: Die Nahrung kommt aus dem Netz

Hypochonder, Nerds und verlorene Seelen: Luise Boeges schön abgedrehter Erzählband „Bild von der Lüge“ entwickelt einen unbestreitbaren Sog.

Es ist kein Zufall, dass Luise Boeges Buch „Bild von der Lüge“ mit den Fantasien eines Kindes beginnt und endet. Schließlich ist jene Sphäre, in der bereits das Aussprechen (oder zu häufige Denken) eines Wunsches die Wirklichkeit verändern kann, die Quelle guter Literatur. Insbesondere einer so verschachtelt-postmodernen Spielart, wie Boege sie mit ihrem neuen Erzählband vorlegt.

Den verhassten Montag durch bloße Willenskraft zum Verschwinden zu bringen, erscheint der Heldin der ersten Geschichte ebenso möglich, wie den Rest ihres Lebens als „kränkliches männliches Wunderkind“ zu verbringen. Unterdessen entwickelt das der Elfjährigen unbekannte Wörtchen „stringent“, das der Lehrer unter den Deutschaufsatz geschrieben hat, ein ungeahntes Eigenleben und verleitet sie, sich mantraartig vorzusagen: „Ich habe kriminelles Potenzial.“

Ähnliches geschieht in „Frau Allesodernichts“. Träumt die Erzählerin bei einem Wanderausflug davon, sie sei eine skrupellose Mörderin, wird sie beim Abstieg prompt von einem Suchkommando aufgehalten, das ihr eine DNA-Probe aus der Mundhöhle kratzt. Imitiert hier die Wirklichkeit den Traum oder umgekehrt? Mit abgeklärter Ironie zerlegt Boeges Erzählerin Nietzsches Appell an die Subjektwerdung: „Und wir werden, was wir sind, d. h. wir sind verständig, herrje.“ Aufgepeppt natürlich – die Durchmischung von Traum und Realität ist seit Jahrhunderten ein Topos romantisch-surrealer Literatur – durch die Feedbackschleifen des Digitalen: „Ich, Kind meiner Zeit, bin eine Art Vampir. Ernähre mich von Bildern, z. B. aus dem Netz.“

Eine neue Bedeutungsebene fürs "Wurmloch"

Apropos Vampir: Ihr Faible für Horrorpersiflagen hat Boege bereits in ihrer abgedrehten Gothic Novel „Kaspers Freundin“ bewiesen. Ein bisschen Alien-Body- Horror gibt es diesmal in der Geschichte „Ratgeber für einen Afrikareisenden“. Nach der Lektüre des besagten Ratgebers, in dem es vor Katastrophen nur so wimmelt, gerät auch das Leben des Erzählers aus den Fugen. Die Schlagseite einer fiktiven Fähre lässt ihn beim Treppensteigen das Gleichgewicht verlieren; Viren und Parasiten springen von den Buchseiten direkt auf ihn über. Am Ende ist der Held überzeugt, ein Wurm hätte sich in seinem Körper eingenistet, und wartet darauf, den Eindringling am Kopf packen zu können, wenn er aus seinem Fuß herauskriecht. Die Wirkmacht des gedruckten Wortes hat Boege hier amüsant und, ja, „stringent“ durchdekliniert. Und obendrein dem „Wurmloch“ eine ganz neue Bedeutungsebene verliehen.

Luise Boeges Charaktere sind neurotische Hypochonder, Nerds mit grenzautistischen Kontaktschwierigkeiten, verlorene Seelen, die mehr schlecht als recht durchs Leben driften. Sie haben mit Nachtschweiß, tropfenden Händen und defekten Lungen zu kämpfen, fürchten sich vor einer Verschwörung der Lyriker, buchen Schweizer Hebammen gegen die abendliche Einsamkeit und attestieren sich selbst gerne mal eine mentale Unzuverlässigkeit. Oft bleibt sogar unklar, wer überhaupt spricht. In der letzten Erzählung „Ich bin Luise“ versucht sich Boege gar im autobiografischen Antäuschen, nur um zu bekennen, „ich sei eine dreiste Lügnerin“. Wer ist also die fiese „Tante“, die dem Nachbarskind Horrorgeschichten erzählt? Wohl doch Boege selbst?

Viel Identifikationspotenzial bietet dieser fragmentierte Reigen nicht. Trotzdem entwickeln die verdrehten Gedankenwelten einen unbestreitbaren Sog – und das nicht nur für examinierte Poststrukturalisten. Und sinnlich kann es auch sein: „Die Straßen waren abgewetzt und verschleiert vom Blick meiner Tochter, die Astlöcher in den Dielen zeigten dieselben undurchlässigen Tieraugen wie am Vortag.“

Boege verweist auch schon mal auf ein Außen

Irgendwie kennen wir sie ja alle, die Lücken zwischen Wort und Handlung, Sender und Empfänger, Innen- und Außenwahrnehmung. Auch wenn Boege sie auf groteske Spitzen treibt: Eine Obduktion scheitert daran, dass die Handgriffe des Dissektors zunehmend asynchron zu den Erklärungen des unsichtbaren Moderators ablaufen („Ich fand alles plausibel, wenn auch nicht optimal performt.“); zwei Liebende versuchen in einer selbst ausgedachten Sprache zu kommunizieren, ohne die Regeln des jeweils anderen zu kennen.

Um derlei semantische Abgründe zu schließen, verweist Luise Boege auch schon mal auf ein Außen. Denn wie soll Sinn entstehen, wenn nicht in den Augen des Betrachters? Ganz konkret geht es um das (ironische) Tragen eines rosafarbenen Pullovers. Ob die Sinnerzeugung geglückt ist, kann man ganz einfach im dem dem Buch angehängten Formular vermerken und per E-Mail an die Autorin weiterleiten.

Luise Boege: Bild von der Lüge. Reinecke & Voß, Leipzig 2017. 120 Seiten, 14,90 €.

Anja Kümmel

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