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Kultur: Es bringt nichts, das Plötzliche zu erwarten

Von Gregor Dotzauer Er muss schon sehr früh sehr alt gewesen sein. Von seinen schriftstellerischen Anfängen an betrachtete Jürgen Becker die Dinge von ihrem Ende aus.

Von Gregor Dotzauer

Er muss schon sehr früh sehr alt gewesen sein. Von seinen schriftstellerischen Anfängen an betrachtete Jürgen Becker die Dinge von ihrem Ende aus. Nicht, dass er in den Tod verliebt gewesen wäre: Sein Starren auf die Vergänglichkeit rührte eher aus der Unfähigkeit, sich in einem Jetzt und einem Hier aufzuhalten. hier, wo immer das ist, beginnt sein erster Lyrikband „Schnee“ aus dem Jahr 1971. Und fast 30 Jahre später, in seinen bisher letzten Gedichten mit dem programmatischen Titel „Journal der Wiederholungen“ von 1999, heißt es: das Einmalige kann man nicht / festhalten, auch wenn man aufhört / mit jedem Vergleich... der Wind schreibt auf seine Art die Bewegungen vor. Aber das ist nur der resümierende Strich unter der Fülle von Einzelheiten, die in seinen Texten aufs Papier drängt, mit weit ausholender Geste umschrieben oder stenografisch notiert: die Mitschrift von alltäglichen Augenblicken, durchkreuzt von Erinnerungen an andere Augenblicke. Kindheitsgerüche, Kriegserlebnisse. Kein Moment, der sich ungefährdet ausdehnen dürfte, keine Wahrnehmung, die das Vergehen der Zeit aussetzen würde. Das Bewusstsein, das Becker erkundet, kennt nur eine unaufhaltsame Drift.

Man kann nach der beobachtungswütigen Genauigkeit seiner Sätze süchtig werden und lange gar nicht merken, welches Vergeblichkeitspathos sie durchtränkt. Man kann ihrer immergleichen, elegischen Tonart und ihres über die Jahre wenig variierten Rhythmus aber auch leicht überdrüssig werden, um sich nach einer Anstandspause wieder Beckers Landschaften und Lichtverhältnissen zu überlassen. Die Balance von Anziehung und Abstoßung ist wohl der Preis für die konsequente Einheit eines Werks, das sich über die Jahrzehnte und Genres hinweg wie ein einziges Buch lesen lässt.

Denn soweit sich Becker in die erzählende Prosa und ins Hörspiel, für das er beim Deutschlandfunk viele Jahre verantwortlich war, vorgewagt hat: Auch in diesen Texten schlägt das Herz eines Lyrikers. Schon die drei Prosabändchen „Felder“ (1964), „Ränder“ (1968) und „Umgebungen“ (1970), mit denen Becker der Durchbruch bei der Kritik gelang, vermessen einen städtischen und gedanklichen Raum, der sich eindeutigen Gattungszuordnungen entzieht – auch weil er die Sprache selbst, viel mehr als später, zum Thema macht. Umgekehrt spielen Beckers große Erzählgedichte, „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ oder „Das englische Fenster“, ins Epische hinüber.

Entscheidend für Beckers Texte ist eine Qualität des Schauens, die er auf den verschiedensten Gebieten eingeübt hat: als Freund des Fluxus-Künstlers Wolf Vostell. Als schreibender Partner seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, mit der zusammen er mehrere Bildbände veröffentlicht hat. Und als Fotograf.

„Eine Zeit ohne Wörter“ (1971) sammelt knapp 300 Schwarzweiß-Aufnahmen aus Beckers Heimatstadt Köln, in der er 1932 auch geboren wurde. Nirgends kann man das zur Existenzform gewordene Siebziger-Jahre-Flair seiner Texte schneller erfassen: diese Zeit der Leere und des Abwartens und diese Epoche urbaner Hässlichkeiten. Stimmungslagen und Motive aus einem wasteland, wie man sie auf andere Weise auch in den Arbeiten von Rolf Dieter Brinkmann oder in den frühen Filmen von Wim Wenders finden kann.

Die Verlängerung des Schweigens, die Arbeit des Vergessens, die Zukunft der Büsche und Bäume, das Verschwinden des Wassers: Das sind die Abstrakta, die durch Beckers Texte treiben. Das weitaus meiste ist konkret, und es gibt dabei nicht das Geringste zu enträtseln. Holzkohlenfeuer, betrachtet / durch eine regennasse Fensterscheibe; aber das ist / nicht der Anfang. Täglich sind diese Dinge / da, und es bringt nichts, das Plötzliche / zu erwarten. Gestern stieg der Regen herab, von / einer Wolkendecke, die seit Tagen das Land / überdacht; Nachrichten, Tennisplätze / lenkten uns ab, und wieder entstand eine Täuschung, / eine vom Zufall hinterlassene Spur.

Heute feiert Jürgen Becker seinen 70. Geburtstag: ein schwerblütiger Chronist der laufenden Ereignisse, ein Heimatdichter von europäischem Format, der Komponist einer impressionistischen Endlosmusik, und ein Kartograph der Naturzerstörung rund um seinen rheinischen Landsitz in Odenthal.

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