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Kultur: „Es gibt kein Paradies. Aber es gibt die Hölle“

Der französische Philosoph André Glucksmann über die Krawalle in den Vorstädten und die Allgegenwart des Bösen

Ihr neues Buch „Hass – Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“ scheint genau jene Phänomene auf den Begriff zu bringen, die wir gerade in Frankreich erleben. Dabei haben Sie sich darin vor allem mit dem islamistischen Terrorismus beschäftigt. Was verbindet die beiden Arten von Gewalt?

Die Revoltierenden in Frankreich stilisieren sich als Opfer. Unsere Soziologen liefern ihnen dafür auch wunderbare Rechtfertigungsgründe. Aber es bleibt unwahr. Viele von ihnen kommen aus den Maghreb-Staaten. Wenn sie mal ihre Verwandten in Algerien besuchen und denen erzählen, wie furchtbar schlecht es ihnen in Frankreich geht, dann bekommen sie aber was zu hören! Die sagen ihnen nämlich: Wir können ja tauschen. Darauf lassen sie sich natürlich nicht ein. Trotzdem beharren sie darauf, sie seien die ärmsten Menschen der Erde. Der römische Philosoph Seneca, ein Kenner des Hasses – schließlich war er am Hofe Kaiser Neros – nennt das dolor: eine selbstmitleidige Form von Narzissmus, der sich Salz in die eigenen Wunden streut.

Sind die Unruhen etwas speziell Französisches?

Sie könnten in Europa auch woanders passieren. Oder schauen Sie nach New Orleans. Aber Frankreich ist das Zentrum des Nihilismus. Schauen Sie nur auf unseren Präsidenten, er ist genauso destruktiv. Jacques Chirac sagt immer nur Nein. Er sagt Nein zu Europa, indem er sich gegenüber den Osteuropäern schlecht benimmt. Er sagt Nein zu den Amerikanern, indem er behauptet, Putin sei ein besserer Mensch als Bush; dabei ähnelt Putin eher bin Laden, wenn man sich seine Tschetschenien-Politik vor Augen führt. Schließlich feiert Chirac den Egoismus, indem er für den Wohlstand von zwei Prozent französischer Bauern ganz Afrika dem Hungertod überlässt.

Sie halten ihn für einen Mann des Hasses?

Er ist kein Mann des Hasses, der Autos anzündet, dafür ist er zu zivilisiert, aber ein Nihilist. In diesem Sinne sind die Jungen in der Banlieue integriert. In welches Frankreich allerdings? Sie sind integriert in die Metropole des europäischen Nihilismus. In Frankreich sagt man Nein. Dann fühlt man sich stark. Und was machen die Jungen in der Banlieue? Sie sagen nicht nur Nein, sie leben es.

Was lehren uns die Ereignissen? Die Revoltierenden lernen ja: Ihr Nein ist erfolgreich. Endlich bekommen sie Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Leider ist das so. Als Chirac Nein sagte, war er der König von Europa. Frankreich ist systematisch nihilistisch. Die Buben machen das nach, was ihnen Chirac vormacht.

Was in unserer Gesellschaft bringt diesen Hass hervor?

Es gibt ihn in allen Gesellschaften. Der Hass hat seine Wurzeln in der menschlichen Natur. Es gibt kein Warum. Die Erklärung für den Hass ist der Hass. Als Primo Levi in Auschwitz einen Nazi fassungslos fragte, warum das alles passiere, antwortete der: „Hier gibt es kein Warum.“ Kant spricht davon, dass es das Böse von Anfang an gibt. Man muss deshalb kein Skeptiker und kein Pessimist sein. Wenn der Hass von Beginn an existiert, gibt es auch sein Gegenteil. Jede Zivilisation sagt in der einen oder anderen Art und Weise: Du sollst nicht töten! Man muss seinen Hass zügeln.

Wenn der Hass zur menschlichen Natur gehört, müsste man ihn nicht eindämmen? Versagt die Zivilisationskultur?

Nein, es ist nichts fasch an der Zivilisation. Natürlich gibt es viel, das besser sein könnte. Aber uns fehlt die Fähigkeit, den Hass zu erkennen. Wir nehmen das Böse nicht ins Visier. Schon Voltaire greift im „Candide“ solchen falschen Optimismus an. Aber auch heute gibt es viele, die glauben, die Welt würde besser und besser. Der US-Regierungsberater Francis Fukuyama sprach nach dem Fall der Mauer 1989 sogar vom „Ende der Geschichte“ als dem Ende aller Gefahren. Fünf Jahre später erlebten wir den dritten Genozid des Jahrhunderts: Nach dem an den Armeniern und dem an den Juden waren nun die Tutsi dran. 10000 Menschen pro Tag wurden abgeschlachtet.

Nicht jeder erfuhr davon.

Jeder wusste das! Es gab genug Fernsehkameras, die Uno, die Großmächte und die Journalisten wussten Bescheid – aber niemand hat etwas getan. Nach dem 11. September haben die Amerikaner ihre Politik korrigiert. Aber die Europäer machen weiter wie zuvor, trotz der Anschläge von Madrid. Und auch jetzt in Frankreich beeilt man sich zu erklären: Das ist nichts Schlimmes, nur ein Reflex auf Probleme der Einwanderung, auf fehlende Integration. Nein! Es gibt Hass, es gibt das Böse.

Aber warum kommt er jetzt so deutlich zum Vorschein?

Weil die großen Ideologien den Hass nicht mehr ummänteln. Den Hass gab es auch zuvor bei den Faschisten, bei den Kommunisten, auch bei den Islamisten. Wir in Westeuropa staunen nur, weil wir das vergessen haben. Der Kalte Krieg ist eine Erfindung Westeuropas. Für niemand anderen war dieser Krieg kalt. Es gab niemals in der Menschheitsgeschichte so viele Revolutionen, Konterrevolutionen, Bürgerkriege, Staatsstreiche und Konzentrationslager – in China, Russland und so weiter. Es gab auch noch nie so viel Kriege gegen die Zivilbevölkerung. Die Unicef hat eine Untersuchung veröffentlicht, derzufolge inzwischen 80 Prozent aller Kriegstoten Zivilisten sind.

Was folgern Sie daraus?

Fast alle Maßstäbe der Zivilisation sind zerbrochen. In der Dritten Welt haben sich Demokratie und Rechtsstaat nicht wirklich durchgesetzt. Vielmehr ist ein Zwischenzustand erreicht worden: Die alten Erziehungsgrundsätze und Traditionen gelten nicht mehr, die modernen noch nicht. Schauen sie nur nach Tschetschenien oder Afrika oder Bagdad: Was bleibt, ist das Recht der Kalaschnikow. Und zwar in der ganzen Welt.

Wie sollen wir darauf reagieren?

Erstens müssen wir erkennen und akzeptieren, dass die, die hassen, auch die Jungen in den Vorstädten ein brutaler Spiegel unserer eigenen Gesellschaft sind, keine traurige Ausnahme. Zweitens müssen wir schlicht und einfach unser Benehmen ändern. Und wir sollten nicht wegschauen. Aber auch der Arzt weiß nicht, was die perfekte Gesundheit ist. Und wenn er es wüsste, wäre er kein Arzt mehr, sondern ein Prophet. Aber er versteht doch etwas von der Krankheit. Die Gesundheit ist kein Paradies. Sie ist eher der Nullpunkt der Krankheit. Das gilt auch im Politischen. Es gibt in der Politik kein Paradies. Aber es gibt die Hölle.

Womit trösten sie sich privat?

Ich lese am liebsten die Romane von Thomas Mann, Hermann Broch und Robert Musil. Alle drei lassen mich etwas verstehen, was ich nicht erlebt habe. Sie schildern etwas Grundsätzliches, das mich mehr interessiert als individuelle Geschichten. Aber als Philosoph muss und will ich mich engagieren. Ich will, wenn ich sterbe, keine Schuld auf meinem Buckel tragen. Ich will von Tatsachen erzählen. Ich will gegen das Böse kämpfen.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

André Glucksmann wurde 1937 als Sohn deutsch-jüdischer Eltern in Boulogne geboren. Der Sartre-Schüler (kleines Bild) trat mit 17 in die KPF ein, aus der er 1957 wegen Kritik am sowjetischen Einmarsch in Ungarn ausgeschlossen wurde, und entwickelte sich zu einem führenden Vertreter der Kritik an der dogmatischen Linken. Wichtige Werke: „Köchin und Menschenfresser“ (1976), „Die Meisterdenker“ (1978) und „Philosophie der Abschreckung“ (1984). Glucksmanns neuestes Buch Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt ( 284 Seiten, 19,90 €) ist gerade im Zürcher Nagel & Kimche Verlag auf Deutsch erschienen.

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