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Kultur: Es war immer der andere

Amerikaner, Außerirdische: Wie Günter Grass beim „Häuten der Zwiebel“ Fremde sieht

„Günter Grass war bei der Waffen-SS“ – die Schlagzeile ist nun zwei Wochen alt. Was Grass schreibt, wird in Deutschland seit Jahrzehnten heiß diskutiert. Das liegt vor allem daran, dass sich der spätere Literaturnobelpreisträger von jeher exponiert hat, literarisch, politisch, gesellschaftlich anstößig gewesen ist. Aber kein Text von ihm hat die Öffentlichkeit so elektrisiert wie das knappe Bekenntnis, nicht, wie er uns bislang glauben ließ, Flakhelfer, sondern Teil jener Truppe gewesen zu sein, die symbolisch und tatsächlich für die ganze Gnadenlosigkeit des NS-Regimes steht. Doch in dieser phasenweise hysterischen Debatte wurde bislang übersehen, wie Grass dieses Bekenntnis ablegt, ob es denn wirklich eines ist – und über was er wenig oder nicht schreibt. Beides verrät viel über den Menschen, der so lange schwieg.

Grass geht in „Beim Häuten der Zwiebel“ von Anfang an auf Distanz zu sich selbst. Er ist „der Junge, der unter meinem Namen anzurufen ist“, ein anderes Mal „der Junge meines Namens“. Er kündigt es schon im ersten Satz an: „Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu verkappen ...“ Dieses kühle Abstandwahren erlaubt ihm, über alles Unangenehme, auch über die „Schande“ und „die ihr nacheilende Scham“ so zu schreiben, als seien es nicht seine Gefühle, nicht seine Schuld, sondern die eines Dritten. Und so wird sein Bekenntnis, bei der SS gewesen zu sein, auch nicht seine Beichte, sondern eigentlich die einer fremden Figur, deren Handeln der Autor mit wissenschaftlichem Interesse, aber ohne innere Anteilnahme verfolgt. Will sagen: Nicht ich bin’s, Adolf Hitler ist es gewesen …

Ist die Vermutung übertrieben, dass es Günter Grass letztlich weder um Reue, noch um Scham, noch um Eingeständnis der Schande ging, sondern um eine kühle Überlegung – die er als eigentliches Motiv seines Handelns schon auf der zweiten Seite seines Buches anbietet: „weil ich das letzte Wort haben will“?

Dass ihn damals der Gedanke, künftig der SS anzugehören, nicht beunruhigte, gesteht er anstandslos zu, und vermutlich ging es vielen seiner Generation so, die nicht vom Elternhaus immunisiert worden waren gegen das völkische Getue und die rassische Überheblichkeit der Nationalsozialisten. Beim jungen Grass erhält die SS sogar so etwas wie höhere Weihen. Das liest sich so: „Auch ging von der Waffen-SS etwas Europäisches aus: in Divisionen zusammengefaßt, kämpften freiwillig Franzosen, Wallonen, Flamen und Holländer, viele Norweger, Dänen, sogar neutrale Schweden an der Ostfront in einer Abwehrschlacht, die, so hieß es, das Abendland vor der bolschewistischen Flut retten sollte.“

Noch eines wirkt befremdlich. Wie er, der Meister der detailversessenen Beobachtung menschlicher Reaktionen, mit eigentümlichem Desinteresse die Amerikaner schildert (also eigentlich nicht schildert), auf die er im Kriegsgefangenenlager trifft. Auch schaut er vorbei an den jugendlichen jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager, seinen Altersgenossen, denen er in der amerikanischen Armeeküche begegnet, weil sie dort als „Displaced persons“, zeitweise Heimatlose, Arbeit gefunden haben. Sonst gehört das ja zum Meisterlichen an Grass’ Werk, diese vom Zeichnen geschulte Begabung, ganz genau hinzuschauen, der durchdringende Blick des kühlen Beobachters. So beschreibt er Mitschüler, Kriegskameraden, Mitgefangene, Lehrer, Eltern, Verwandte. Aber angesichts der Befreier, die er natürlich nicht als solche empfand, und der Opfer, die er durchaus als diese begriff, versagt ihm der genaue Blick.

Die Amerikaner „in ihrem laxen Gehabe kamen uns wie Außerirdische vor“, teilt er mit. Zwei von ihnen skizziert er mit knappsten Strichen. Und gegen die Vorhaltungen des Education-Officers, welche Verbrechen die Deutschen in den KZs verübt hätten, setzt er durch kein dokumentarisches Foto zu erschütterndes Selbstbewusstsein: „So was tun Deutsche nicht! Das ist alles Propaganda!“ Das geradezu wahnhafte Beharren auf der ungebrochenen moralischen Integrität des deutschen Volkskörpers hätte ihn, wären nicht Amerikaner, sondern Russen in der Aufklärerrolle gewesen, das Leben, mit Sicherheit aber für Jahrzehnte die Freiheit gekostet.

Hat er das gespürt, dieses Auf-einmal-alles-sagen-Dürfen? Falls ja, lässt er es uns nicht wissen. Aber anderes bleibt ihm über die Jahrzehnte haften – dass Amerikaner mit Lebensmitteln verschwenderisch umgehen und dass weiße GI’s schwarze als „Nigger“ bezeichnen. Günter Grass, der nicht ganz unwissende Angehörige einer Nation, der Völkermord zur Last gelegt wird, kritisiert bei seinen Befreiern Rassismus. Das ist, vorsichtig bezeichnet, kühn, überheblich, kalt. Und auch den jüdischen KZ-Häftlingen gegenüber gibt es nur die typisch jugendliche Gruppen-Rotzigkeit zu jenen, die „anders“ sind.

Von Nachdenklichkeit oder einem Anflug von Selbstzweifel im Nachhinein keine Spur, obwohl er eigentlich wissen muss, aus welch bitterer Erinnerung sich der knappe deutsche Wortschatz der wohl aus Polen Stammenden speist: „Raus! Schnellschnell! Stillgestanden! Fresse halten! Ab ins Gas!“

Wenn er von den Nachkriegsjahren, dem Anfang des Wirtschaftswunders, dem beginnenden Kalten Krieg berichtet, wird sein Blick hingegen wieder klar, dann trübt auch nach Jahrzehnten kein Hauch des Zweifels das Urteil der frühen Jahre. Wir lesen: „Der Kanzler Adenauer wirkte wie eine Maske, hinter der sich all das verbarg, was mir verhaßt war: die sich christlich gebende Heuchelei, die Kehrreime lügenhafter Unschuldsbeteuerungen und der zur Schau getragene Biedersinn einer verkappten Verbrecherbande.“ Die DDR-Propaganda der fünfziger und sechziger Jahre hätte das nicht eindrucksvoller formulieren können.

All das Häuten der Zwiebel wäre, handelte es sich bei den Kehrreimen lügenhafter Unschuldsbeteuerungen um Verarbeiten aktuellen Geschehens oder ginge es um einen x-beliebigen Zeitgenossen, immer noch befremdlich. Aber auch hinnehmbar, menschliche Schwäche eben, verständlich. Aber es ist Günter Grass, und es ist eben ein halbes Jahrhundert her, über was er uns redet. Nach so viel Zeit zum Nachsinnen hätte man auf eine Spur von dem gehofft, was der deutsche Großschriftsteller stets von jenen forderte, die er in Sünde sah – Bußfertigkeit. Davon steht nichts in diesem Buch.

Gerd Appenzeller

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