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Essay: Erklär’ mir Stuttgart

Protestierende Schwaben? Die Auswärtigen verstehen nur Bahnhof. Eine kleine Landeskunde.

Zwischen den Altmetallbergen der Recyclingfirma Karle und dem Wildwuchs am Nordbahnhof, wo früher Menschen aus aller Welt für die Eisenbahn gearbeitet haben, ist in diesen Tag wieder der Gema-Schnüffler unterwegs. Womöglich fordert er bei den Jungs vom Künstler-Waggon „Für Flüssigkeiten und Schwingungen“ angeblich ausstehende Tantiemen für die Geheimshow einer Punkrockband ein. Am Stuttgarter Nordbahnhof, in der Nähe des Mahnmals für die von Nazis deportierten und ermordeten Juden, leben junge Künstler in ausrangierten Zügen der Bahn. Die Cleveren von ihnen haben in den ehemaligen Wagenhallen professionelle Bühnen für Konzerte und Partys eröffnet.

Der Nordbahnhof, ein Stadtquartier mit vielen Migranten, ist nur wenige Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, und ausgerechnet der Abenteuerspielplatz der Künstler verdankt sich Stuttgart 21. Weil klar scheint, dass Teile des Quartiers dem – je nach Schätzung – fünf bis zehn Milliarden teuren Bahnprojekt zum Opfer fallen, lässt man sie ihre Kreativität bis zum Tag X an den toten Gleisen ausleben.

In diesem Milieu ist der Popmusiker Putte, 35, groß geworden, heute kann er von seinen Songs für Filme und Videos gut leben. Monatelang ging er jeden Montag zum Kurt-Georg-Kiesinger-Platz, um gegen die Tieferlegung des Bahnhofs zu demonstrieren. Seit aber die S-21-Bosse den Bagger anrollen ließen, um den Nordflügel von Paul Bonatz’ Architekturdenkmal zu zertrümmern, ist fast täglich Großeinsatz am Bauzaun, dem mit gewitzten Zettel-Botschaften („Talibahn!“) dekorierten Schauplatz des Konflikts. Zur Unterstützung der Kopfbahnhof-Befürworter (K21) und der „Parkschützer“ des bedrohten Schlossgartens hat Putte die Aktion „Unsere Stadt“ ins Leben gerufen. Der Protest, sagt er, „geht längst über Stuttgart 21 hinaus“. Viele S-21-Gegner beschäftigen sich inzwischen mit „Recht auf Stadt“, einer Bewegung gegen die Willkür der Politiker, wie sie auch in anderen Großstädten stattfindet.

Nie war Stuttgart so groß in den Medien wie seit Beginn des Protests, schon gar nicht, als sich die Stadt 2003 in einer Mischung aus historischem Minderwertigkeitskomplex und neuem Größenwahn um Olympia 2012 bewarb – und sich jämmerlich blamierte. Gelernt haben die Politiker und ihre PR-Chargen daraus nichts. Auch bei der Planung der Monsterbaustelle zur Tieferlegung des Bahnhofs und Errichtung eines neuen Stadtteils dachten sie nicht daran, die Bürger zu beteiligen. Debatten über Städtebau und Stadtplanung fanden nicht statt.

Die Politiker haben sich von der Realität entfernt, Emotionalität und Gerechtigkeitssinn braver Bürger unterschätzt. Seit jeher ist in der schwäbischen Seele nicht nur Platz für konservative Bescheidenheit. Demokratische Haltung steht hier für fortschrittliche Kultur.

Die „schwäbische“ Mentalität geht zurück auf die großen Geister von Stuttgart, auf Dichter/Politiker wie Friedrich Schiller und Ludwig Uhland. Sie vermitteln bis heute Werte wie Freiheit und Toleranz. Der Gerechtigkeitssinn ist tief verwurzelt im Land der Bauernkrieger und Tüftler, gerade beim Bürgertum. Nur abgehobene Politiker und Bahn-Manager wundern sich, wenn sich unter die 40 000 Demonstranten auch teuer gekleidete Damen und Porsche fahrende Herren aus den Halbhöhenlagen mischen. Kein Zufall, dass diese Stuttgarter mit ihren vielen Ausländern (über 20 Prozent) fairer umgehen als die Bürger anderer Städte.

Amüsiert verfolgte man, wie auswärtige Reporter zuletzt die immer gleichen Klischees verbreiteten. „Ausgerechnet in der schwäbischen Beschaulichkeit“ stießen sie auf hartnäckigen Protest, mal präzise und laut, mal pathetisch und esoterisch, aber friedlich. Mitten unter „rechtschaffenen Bürgern“ im „sauberen“ Stuttgart erlebten sie Aufmüpfigkeit gegen die da oben. Als hätten nach Schiller und Uhland nicht auch Fritz Teufel und Joschka Fischer ihre politische Grundausbildung im schwäbischen Milieu absolviert (der spätere Außenminister in einem republikanischen Keller-Club des Rotlichtviertels). Ohne Kenntnis davon witzelt man über schwäbische „Langeweile“ unter dem Einfluss lustfeindlicher Pietisten: „Warum ist hier Geschlechtsverkehr im Stehen verboten? Die Sache könnte in Tanz ausarten.“

In den Zeiten des Aufruhrs aber geht es um mehr als die schwäbische Volkslaune im Widerstand gegen ein teures Bauprojekt. Ignorante Politiker, die Werbeagenturen bezahlen, um sich vor dem Dialog mit dem Bürger zu drücken, findet man nicht nur in Stuttgart. Der neue Protest ist ein grenzübergreifendes Phänomen. In Baden-Württembergs Hauptstadt mit ihren knapp 600 000 Einwohnern lehnen sich selbstbewusste Bürger aus allen Schichten gegen die Arroganz der Macht auf, und da spielt nicht etwa provinzielle Angst vor Ungewissem die wichtigste Rolle, wie die Strategen des „Fortschritts“ behaupten. Die Menschen wollen nicht länger zuschauen, wie ihre Städte aus wirtschaftlichen Interessen von Cross-Border-Leasing-Zockern um- und zugebaut werden.

In Stuttgart, wo man nach dem Krieg in blinder Wachstumshörigkeit Autoschneisen durch die Stadt trieb und um ein Haar sogar die nicht nur von Touristen geliebte Zahnradbahn zwischen Tal und Hügel in den Tunnel verbannt hätte, sind die Leute traditionell begeisterungsfähig.

„Ausgerechnet“ das schwäbische Publikum in seinen hoch subventionierten Theatern feierte schon in den sechziger Jahren, als man andernorts Homosexuelle mithilfe des Paragrafen 175 verfolgte, einen gegen harten politischen Widerstand durchgesetzten schwulen Ballettdirektor aus Südafrika, John Cranko. Die Stuttgarter waren bereit für die Uraufführungen der avantgardistischen Opern von Philip Glass, als zeitgenössisch interpretierte Mozart-Inszenierungen im nahen München mit fliegenden Eiern quittiert worden wären. In Stuttgart, wo Baader, Ensslin und Raspe nach ihrem Suizid von Stammheim begraben liegen, fanden Angehörige der RAF-Terroristen humanistisch geprägte Wirtsleute, die trotz der gefährlich aufgeheizten Stimmung den Leichenschmaus mit Nächstenliebe ausrichteten.

Heute beweisen Charakterköpfe wie der urschwäbische Sterne-Koch Vincent Klink Courage; mit Gleichgesinnten wie dem ehemaligen Daimler-Chef Edzard Reuter unterschrieb er den weit über die Stadt hinaus angelegten „Stuttgarter Appell“ für ein Ende des Bauwahns. „Politiker“, sagt Klink, „sind nicht meine Gäste. Kneipen, wo Politiker sitzen, taugen meist nicht viel.“ Schwaben sind liberal, knitz und neugierig, und wenn ihnen langweilig wird, wie in den neunziger Jahren, treiben Schillers Erben die Republik mit frechen deutschen HipHop-Versen um.

Alle klimatischen Veränderungen aber halfen nicht, den Spott über schwäbische Folklore, ihren Dialekt und den von Fremden missbrauchten Diminutiv („Ländle“) einzudämmen. Und fatalerweise wissen die Mächtigen, Politiker wie der rhetorisch unterirdische OB Schuster oder der vollbackige Ministerpräsident Mappus, nichts von den wahren Werten Stuttgarts. Die auf Rummel und Automuseen konzentrierte Stadtwerbung ignoriert zum Zorn der Einheimischen Einzigartigkeiten wie die Hügellandschaft, das heilige Wasser der (von Stuttgart 21 bedrohten) Mineralquellen oder die hochkarätige Kultur mit ihren bedeutenden Bühnen zwischen Klassik und Pop. Aber selbst die vielen neuen Live-Clubs und Bars, die während der Fußball-Partys 2006 noch viele Auswärtige in Staunen versetzten, haben das Bild vom geizigen Schwaben und seiner Kehrwoche nur kurzfristig korrigiert.

Dem Musiker Putte kann es wurscht sein. Kollegen aus anderen Städten beneiden ihn um die vielen Läden, wo es noch Trinkgelder und Gagen gibt.

Der Autor ist Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“ und betreibt einen Flaneursalon. Infos: www.flaneursalon.de

Joe Bauer

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