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Auf dieser Erde ist der Schriftsteller Kapitän. Ein Papierboot für die Sans-Papiers sticht in See.

© L. Patrice/Oredia

Essay: Das Zentrum der Gänsehaut ist überall

Über die grenzenlosen Wasser des Erzählens. Eine Reise in die Welt des Romans mit acht Stationen

LIEBER ROMAN,
schwer zu erkennen, wer du heute bist, unmöglich zu sagen, was du morgen sein wirst, aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass du, seit die Zeitungen begonnen haben, dich in ihren Feuilletons abzudrucken, in den meisten denkbaren Formen aufgetreten bist, von Familiensagas voller Säbelrasseln und Samoware bis zu Eigenbrötlern, die sich an gottverlassenen Ufern Steine in den Mund stopfen, was mich dazu verleitet, von deiner Zukunft mithilfe von sieben Topoi zu träumen, also sieben „Orten“ oder „Stationen“ eines Gedankengangs, denn so viele Kontinente gibt es ja auf Erden.

FRIST
Von allem, was du als Roman bietest, scheint mir der Aufenthalt am selbstverständlichsten, er sorgt dafür, dass man als Leser in dir allein sein kann, ohne sich einsam fühlen zu müssen, abgeschieden, aber verbunden mit anderen Schicksalen, und ich gestehe, dieses offene Asyl gehört für mich zum Besten an dir, eine dehnbare Dimension, im Prinzip für jeden zugänglich, in der die Vergangenheit niemals vorbei ist, die Zukunft selten sicher erscheint und die Gegenwart keinesfalls eine einzige ist, so dass die drei Zeitformen gemeinsam ein viertes Tempus bilden, das dein eigenes sein könnte, und sicher liegt es nahe, dies als eine Gnadenfrist zu betrachten, wie sie einst Scheherazade erwirkte, als es ihr Nacht für Nacht gelang, das Unvermeidliche aufzuschieben, bis der König das Todesurteil in eine Hochzeit umwandelte, aber ich bin mir nicht sicher, dass wir uns heute noch auf glückliche Enden verlassen können.
Außerdem kann eine Frist ja auch ein weniger befreiender Limbus sein – wie etwa der „Gewahrsam“ am Flughafen Arlanda vor den Toren Stockholms, wo Flüchtlinge darauf warten, „nach Hause fahren zu dürfen“, wie die Behörden es ausdrücken, eine beschönigende Umschreibung, denn der Ausgang steht fest, sobald sie dort die Schwelle übertreten haben, weshalb sie letztlich auf die Deportation oder „Rückführung“ warten, wie der offizielle Begriff lautet, was das Heimweh, das als Grundmotiv in der epischen Tradition gilt, aus der du entstanden bist, als Strafurteil erscheinen lässt.

KONTRAST
Diese Verdrehung der Sprache ist eine Perversion, von der sich kein Idiom freizumachen vermag, nicht weil es in der Natur der Sprache liegt, auch zu entstellen, worüber sie spricht. Deshalb meine ich, dass du nicht als ein Medium behandelt werden sollst, mit dem Worte von schmutzigem Gebrauch reingewaschen werden, sondern vielmehr als die Kontrastflüssigkeit, mit der – die politischen oder anderen – Bedingungen für die Verdrehung hervortreten.
Zum Beispiel die Gründe dafür, dass das Personal im Gewahrsam von „würdevollen“ Rückführungen spricht, während es in Wahrheit darum geht, eine rechtliche und rhetorische Situation zu konstruieren, bei der es sich eher um eine Falle handelt, in der jede Handlung, die die Bedingungen nicht bestätigt, früher oder später kriminalisiert wird, was übrigens der Grund dafür ist, dass die Behörden Flüchtlingen, die ihren Pass verloren haben, so selten glauben, da eine Person ohne Ausweis nicht ausgewiesen werden kann, zumindest nicht in ihr sogenanntes Heimatland, sondern zu dem ersten EU-Staat zurückgeschickt wird, in den sie ihren Fuß setzte, was wiederum heißt, dass diese national nicht identifizierbaren Menschen nun schlicht als „die“ bezeichnet werden
.

PERSPEKTIVEAn einem Ort wie dem Gewahrsam bildet dieses „die“ den kleinsten gemeinsamen Nenner für die somalischen Mütter und afghanischen Jugendlichen und irakischen Väter und syrischen Kinder und kurdischen Großeltern, die alle darauf warten, zu „fühlen, dass es okay ist, in sein Heimatland zurückzufahren“, und so gezwungen werden, sich in der boshaftesten Art von Nostalgie zu üben, und ich frage mich, ob dieses „die“, das es uns anderen ermöglicht, uns „wir“ zu nennen, nicht Teil jenes „stillen Gepäcks“ ist, das die Literatur Herta Müller zufolge zum Sprechen bringen soll, denn was bedeutet „die“ anderes als eine Nichtzugehörigkeit und demnach eine Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden, verständlich Gesagtem und barbarischem Gebrabbel.Folglich muss ein Roman, der das stille Gepäck ernsthaft zum Sprechen bringen möchte, die Verantwortung für den Inhalt übernehmen, wenn auch nur in geringem Maße, was wiederum heißt, „die“ als „wir“ zu betrachten, und sei es auch nur in ebensolchem geringen Maße, und damit ist der Perspektivismus nach wie vor eines deiner besten Mittel, um widersprüchliche Zusammenhänge darzustellen.Jedes Ich wird zum Wir

LEGION
Perspektivismus heißt aber auch, dem Anecken eine Form zu geben, und sollte diese Unbequemheit einen Namen tragen, dann wohl nur Legion, womit ich beim Vierten wäre, woran ich denke, nämlich bei jener Person, die in einer Szene in der Bibel auftaucht, in der Jesus, nachdem er an einem fremden Ufer an Land gegangen ist, einem Mann begegnet, „der seine Wohnung in den Grüften hat“, wo er besessen von einem „unreinen Geist“ sich selbst mit Steinen schlägt und sich „nicht mit einer Kette“ fesseln lässt, kurzum: Wir stehen einem Prachtexemplar eines schwer zu integrierenden Menschen gegenüber, der nun behauptet: „Legion ist mein Name, denn wir sind viele“, und ich frage mich, ob dies nicht auch dein Name sein könnte.
Jedenfalls hege ich den Verdacht, dass die Aussage eine Miniversion des genetischen Codes des Romans enthält, denn in dieser Äußerung geschieht etwas nach der Behauptung, aber vor der Schlussfolgerung, es scheint eine Verzerrung im Herzen des Satzes zu geben, wodurch die Person, die anfangs spricht, nicht die ist, die den Satz beendet, und ist es nicht genau das, was ein Roman tut, bei der Lektüre verwandelt er ja jedes einzelne „ich“ in etwas von einem „wir“.
Folglich gibt es in dieser Verwandlung eine erschaffende und eine auflösende Kraft, und wenn die Literatur nicht bloß der Zerstreuung dienen, sondern eine eigenständige Erkenntnisform sein soll, kann sie sich nicht damit begnügen, mehr oder weniger gut verpackte Bearbeitungen dringlicher „Themen“ anzubieten, sondern muss sich von Erwartungen frei machen, was sie ist oder sein sollte, und stattdessen damit überraschen, was sie werden kann, nichts anderes bedeutet das Nächste, woran ich denke
.
DAS PAPIERLOSE
Was eine andere Bezeichnung wäre für „das stille Gepäck“, das zwischen Buchdeckeln ausgepackt wird, zumindest wenn man mit Literatur einen Weg meint, etwas weiter zu gehen, als die Sprache eigentlich erlaubt. Natürlich ist mir bewusst, dass mit Menschen „ohne Papiere“, also papierlosen Menschen, im Allgemeinen Personen gemeint sind, die ihre Identität nicht nachweisen können oder wollen, aber dieser Zustand ohne Papiere rührt auch an etwas Wichtiges bei dir, du Roman, der du entstanden bist, als die Druckerpresse begann, Buchstaben auf Zellulose zu vervielfältigen. Denn liegt es nicht in deiner Natur, zu versuchen, sich das noch Unbeschriebene einzuverleiben, das in gewissem Sinne nicht Legitimierte, vielleicht auch Illegitime, was natürlich nicht heißt, dass diese menschlichen Erfahrungen ungelebt wären, sondern nur, dass sie bislang unformuliert geblieben sind. Dieser Wunsch, dem Papierlosen Worte zu verleihen, gehört zu deiner Daseinsweise – streng genommen kenne ich keinen besseren Grund für deine Existenz.

TEILNAHMEIch gehöre nicht zu denen, die glauben, du seist unsterblich, denn immerhin sind nur ein paar hundert Jahre vergangen, seit du deine heutige Gestalt bekamst, und was sagt uns, dass du in dieser Form weiterleben musst, im Gegenteil, ich glaube an deine Fähigkeit, neue Gestalten anzunehmen, vielleicht sorgt gerade das Vertrauen auf sie für dein Überleben, als könne der Glaube an die Vergänglichkeit dich tatsächlich retten, denn ich nehme an, nur wenn du von ihr ausgehst, wirst du zu einem narrativen Bewusstsein, geräumig genug, um eine heimliche Menschlichkeit zu enthalten – ist es doch das, worum sich alles dreht, nämlich Teilnahme, von der Brecht sprach, als er sich den Menschen nicht als „Individuum“, sondern „Dividuum“ vorstellte. Zwar weiß selbst das Personal des Gewahrsams, dass die Rechte eines Menschen universal sind und er als unantastbar und unteilbar, also als Individuum, behandelt werden muss, aber als soziales Wesen besteht er aus Bindungen, ist er ebenso sehr Atom wie Molekül, und so stelle ich mir ein narratives Bewusstsein vor, das zugleich größer und kleiner ist als das Ego. Ich frage mich, ob der Roman nicht im Idealfall ein Text sein soll, bei dem sich das Zentrum überall befindet, denn nur so erscheint es möglich, der Welt in ihrem verwirrenden Reichtum gerecht zu werden und auch die Leichtigkeit und Freude in einem Dasein einzufangen, das gleichzeitig eine Hölle ist. Hoffnung ist immerhin etwas anderes als ein glückliches Ende, trotz allem geht es ja in der Literatur nicht darum, ausgedachte Personen zum Leben zu erwecken, sondern darum, Leben in Bewegung zu setzen. Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, dürfte wohl immer noch sein, sie zu erfinden. Als Leser bin ich seit langem einer Prosa überdrüssig, die beweist, was wir nicht kennen, aber gleichwohl schon wissen, als wäre in der Epik in den letzten 100 Jahren nichts geschehen. Ich begreife nicht, warum ein Roman nicht ein Katalog über Atemzüge sein kann, oder sieben Fälle von Schmerz, verteilt auf achteinhalb Wesen. Die Pointe muss sein, dass die Literatur keine Pyjamaparty ist, bei der unsere gierige Sehnsucht nach bequemer Zusammengehörigkeit das Gespür für Komplikation ersetzt, sondern eine Dimension bietet, in der dem Leser ein narratives Bewusstsein begegnet, das ihn Gänsehaut bekommen lässt. Es ist die deutlichste Art, in der Evidenz erzeugt wird, dieseGänsehaut zeigt Evidenz an

Auf dieser Erde ist der Schriftsteller Kapitän. Ein Papierboot für die Sans-Papiers sticht in See.
Auf dieser Erde ist der Schriftsteller Kapitän. Ein Papierboot für die Sans-Papiers sticht in See.

© L. Patrice/Oredia

GÄNSEHAUT
Wenn die Literatur uns wirklich angeht, vermittelt sie ein Gefühl von Unabweisbarkeit, sie enthält etwas, wogegen wir uns als Leser nicht wehren können, eine Unruhe oder Aufgeregtheit, vielleicht Bestürzung, womöglich Begeisterung, jedenfalls entdecken wir, dass wir auf verborgene Art zutiefst vertraut mit ihr sind, was die Gänsehaut nicht gerade abschwächt, wir müssen sie als Teil unserer Daseinsweise betrachten, als wisse die Literatur mehr über uns als wir selbst.
Ich glaube, wenn die Prosakunst in Zukunft relevant sein möchte, muss sie solche Evidenz erschaffen, sie muss Gänsehautproduzentin werden, denn ist die prickelnde Haut nicht die Entsprechung unseres Körpers zu einem Text, in dem sich das Zentrum überall befindet, diese unzähligen winzigen Erhebungen, die jede für sich einen eigenständigen Mittelpunkt bilden. Was übrigens der Grund dafür ist, dass es bei der Produktion von Sinn in der Literatur niemals um Wachstum, sondern um Überschuss geht. Und deshalb erlaube ich mir eine letzte, überzählige Station auf meiner Reise in sieben, nein acht Ecken um die Welt anzulaufen, nämlich

LIQUIDITÄT
Denn die Kontinente sind ja nicht nur voneinander getrennt, sondern auch miteinander verbunden, in beiden Fällen von Wasser, und ich stelle mir die erzählende Prosa wie ein solches Medium des Teilens vor, und also auch den Differenzerfahrungen gewidmet, denn wenn ihre Vergangenheit uns etwas zeigt, dann doch, dass sie die unterschiedlichsten Gestalten annehmen kann, sie enthält Vielfältiges, und deshalb träume ich von ihr, die viele ist, als sei ihr Zentrum überall, als gebe es somit aber auch etwas, was dafür sorgt, dass sie sich trotz ihrer wechselnden Züge gleicht, und ich frage mich, ob diese haltbare Veränderlichkeit, die man Liquidität nennen könnte, nicht als ihr größter Vorzug betrachtet werden muss. Vielleicht ist sie sogar der einzige Grund, weiter an die Prosakunst als selbstständige Erkenntnisform zu glauben – dass sie auch im Zeitalter medialen Überflusses eine Zukunft hat.

Der Autor, 1960 als Sohn griechisch-österreichischer Eltern in Göteberg geboren, lebt als Schriftsteller in Berlin. Im Hanser Verlag erschien zuletzt das Vaterbuch „Die halbe Sonne“. Den hier abgedruckten Text, den Paul Berf aus dem Schwedischen übersetzt hat, hielt er als Festrede zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises an den amerikanischen Autor Teju Cole („Open City“) im Haus der Kulturen der Welt.

Aris Fioretos

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