zum Hauptinhalt
Zweitverwertung statt Impulse. Szene aus der Schaubühnen-Adaption der TV-Serie „Borgen“.

© dpa/Arno Declair

Essay zum zeitgenössischen Theater: Das Drama der Dramatiker

Warum das Theater keine Autoren mehr hat – und die Stücke immer kleiner werden.

Was soll das Theater, fragt die Berliner Akademie der Künste. Was kann das Theater heute, da jeder Hauptdarsteller seines eigenen Lebens geworden ist, leisten? Ulrich Matthes hat eingeladen: Schauspieler, Regisseure, Intendanten, Dramaturgen, Kritiker, Wissenschaftler; lauter Profis der Selbstlegitimation.

Und dann, in der fünften Stunde dieser Runde, diskutieren ein Dramaturg, eine Lektorin und ein Intendant: Wie viel Literatur braucht das Theater? Ist, dass kein Autor zu Wort kommt, nur ein Versehen oder exemplarisch für die Situation?

Das europäische Theater ist Autorentheater, allen Schlachtrufen von Dada und den unzähligen Dekonstruktionen, Performances und Happenings zum Trotz. Aischylos und Shakespeare, Molière, Kleist und Tschechow, Brecht, Tabori und Sarah Kane waren es, die unser Menschenbild auf dem Theater geprägt haben.

Die Rolle des Theaters – und das heißt der Schauspieler – bestand darin, mittels dieser Texte, also auf der Basis einer überlegenen ästhetischen und intellektuellen Qualität, vorzuführen, was es mit uns auf sich hat. Es war immer wieder die Verbindung des Theaters mit einem Autor, die über dessen Bedeutung entschied: Shakespeare und das Globe-Theatre; Molière und die Comédie Francaise; Goethe in Weimar; Brecht am Berliner Ensemble. Selbst das Gründungsmanifest des deutschen Theaters, „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“, verdanken wir einem Autor, Friedrich Schiller: „So gewiss sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als toter Buchstabe, so gewiss wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze … Wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation …“

Hunderte Uraufführungen pro Jahr, nirgends auf der Welt sind es mehr

Der Text ist ein einziges Hoffen, das Theater ein riesiges Vielleicht, ein Versprechen, Frühling im deutschen Winter. Aber statt der Nation bekamen wir das Reich, statt des Nationaltheaters Bayreuth. Die Weimarer Dioskuren sahen es voraus: „Zur Nation Euch zu bilden, Ihr hofft es Deutsche vergebens! Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus!“ Dass sie es nicht konnten, ist das Elend der deutschen Geschichte.

Seit über fünfzig Jahren druckt die Zeitschrift „Theater heute“ monatlich ein Stück. In manchen Jahren gibt es im deutschsprachigen Raum hunderte Uraufführungen; mehr als in jedem anderen Land der Welt. Aber seit den sechziger Jahren, seit dem „Marat“ von Peter Weiss, Hochhuths „Stellvertreter“, Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ werden die Texte schmaler, wird die Welt, die sie fassen, immer enger: Beziehungskisten, in denen das Private nicht Reflex des Politischen ist, sondern zur Konstellation verkommt. Und bei den Inszenierungen der alten Texte übertünchen die grellen Gesten mühsam den konzeptionellen Kleinmut.

Das sei, heißt es, dem gegenwärtigen ökonomischen Weltkrieg, genannt Globalisierung, den neuen Medien, also der fundamentalen Veränderung und Beschleunigung der Wissensvermittlung geschuldet. Der Traum, an die Stelle der „Herrschaft der Verhältnisse“ die „Herrschaft über die Verhältnisse“ zu setzen, sei ausgeträumt. Ende der Utopie.

Ist die Welt noch im Theater abbildbar?

Und das bringt uns auf die von Dürrenmatt formulierte Frage, ob denn diese Welt auf dem Theater noch abbildbar sei? Und Brechts Antwort: Ja, vorausgesetzt, man stelle sie als veränderbare dar. Das Unheil, das dieser Disput in den Köpfen der Theaterleute und Kritiker angerichtet hat, wirkt bis heute. Denn Frage wie Antwort überraschen durch die Unterstellung, dass die Welt jemals abbildbar gewesen sei. Wann?

Was Aischylos auf die Bühne brachte, war nicht die griechische Welt, sondern ein mythologischer Entwurf. Shakespeare? Sein Werk ist universal, aber ist es eine Abbildung der Welt seiner Zeit? Sein Böhmen lag bekanntlich am Meer. Schon sie war pluralistischer, als irgendeines seiner Stücke sie zeigt. Dass wir sie für eine Abbildung dessen halten, was nicht mehr vorhanden ist, ist eine Täuschung, die nahe liegt, aber eine Täuschung. Schiller, Kleist, Brecht, Peter Weiss, Bernhard, Tabori, Strauss und schließlich Jelinek, Schimmelpfennig und Pollesch – je besser wir die Welt kennen, umso deutlicher wird, wie unabbildbar sie ist: die Realität.

Ein Stück, selbst ein großes, ist – der Doppelsinn sagt es – immer ein Stück. Und wie immer das Theater sich gibt, es ist Spiel als Antwort auf die Unabbildbarkeit der Welt. Es ändert die Welt nicht, aber es ändert unser Verhältnis zu ihr. Es ist eine Selbstbehauptung des Menschen gegen seine Geschichtlichkeit. Die entscheidende Frage ist ja nicht unsere Sterblichkeit, sondern wie wir leben, während wir sterben. Und was sich darstellen lässt, ist Poesie. Sinnbild, nicht Abbild.

Die Gesellschaft hat Schuld? Das ist vulgärmarxistische Verblödung

Um das zu leisten, um das Material, das die Geschichte dazu bereithält, zu sortieren, bedienten sich die Autoren einer philosophischen Brille: Shakespeare des moralischen Skeptizismus eines Montaigne. Molières „Menschenfeind“ ist ohne den Dualismus Descartes’ nicht zu denken. Dass diese wohl tiefste Komödie der Weltliteratur derzeit in der Regel dadurch vergewaltigt wird, dass der Menschenfeind recht bekommt, ist ein eklatantes Beispiel für die landläufige vulgärmarxistische Verblödung, bei der auf jeden Fall die Gesellschaft Schuld hat.

Schiller glaubte an das Kant’sche „autonome Individuum“, als er sich den Dreißigjährigen Krieg vornahm, und schrieb den „Wallenstein“. Brecht, als er sich dem gleichen Dreißigjährigen Krieg zuwandte, illustrierte Marx’ Übermacht der Verhältnisse und schrieb die „Mutter Courage“. Diese Umwege brauchen Zeit. Brecht suchte jahrelang nach einer historischen Konstellation, die es ihm ermöglichte, den Konflikt zwischen Glauben und Wissen im „Galileo“ zu fokussieren.

Das Theater hechelt den Medien hinterher

Auch Brecht zeigt ja nicht die vorhandene Welt. Zwar tut sein Theater, als zeige es die Welt. Aber was wird gezeigt? Nicht die vorhandene, sondern die Wünschbarkeit einer anderen, nicht vorhandenen Welt: Poesie. Für die Beziehungskiste könne er zu Hause bleiben und wenn er Besoffene sehen wolle, gehe er in die Kneipe. Da könne er wenigstens rauchen, spottete B. B.

Selbst dann, wenn wir die Frage der Beschreibbarkeit der Welt nicht zur gesellschaftlichen Frage verkürzen, gilt, dass wir auf die Unabbildbarkeit der Welt nur mit Utopie antworten können. Das Theater aber hechelt den anderen Medien hinterher, siehe zum Beispiel den Versuch, die dänische TV-Erfolgsserie „Borgenauf die Bühne zu bringen, und es glaubt, sich behaupten zu können, indem es auf den ‚Umweg‘ über den Autor verzichtet. Sie wollen das direkte Abbild, nicht Fokus oder Brennglas, sondern Spiegel sein.

Oliver Kluck, ein in „Theater heute“ vorgestellter Autor, ausgezeichnet unter anderem mit dem Förderpreis des Berliner Theatertreffens, findet Theater faszinierend, „wenn man nicht weiß, ist das jetzt Wirklichkeit oder Bühne“. Nur konsequent, dass nicht nur der Regisseur Volker Lösch Arbeitslose, Migranten oder andere soziale Gruppen direkt auf die Bühne holt. Diese Faszination durch „Authentizität“ braucht freilich keine Autoren mehr: Das Ereignis bin ich.

Was wäre dagegenzusetzen? Ein Theater nicht als Ort der Proklamation von, sondern der Auseinandersetzung mit Ideen. Theater als Labor, als Ort einer Suche, die nicht vergiftet ist von der heimlichen Sehnsucht, auch die Antworten zu geben. Denn die werden immer Geschrei oder Propaganda. Es ist die alte Suche, die des Pilatus und des Ödipus.

Die Kompetenz der Autoren muss etwas kosten

Dazu aber braucht es die überlegene Kompetenz der Autoren. Die freilich müsste man bezahlen. Zurzeit bekommt jeder am Theater Engagierte, vom Intendanten bis zur Putzkraft, sein festes Honorar, nur einer nicht: der Autor. Er bekommt rund 15 Prozent der Kasseneinnahmen. Setzt nun ein Regisseur das Stück in den Sand, und es läuft nicht, bekommt der Regisseur sein ungeschmälertes Regie-Honorar. Dem Autor aber, an die Kasseneinnahmen gebunden, wird das Honorar gekürzt. Er muss für die von ihm nicht verschuldete Pleite büßen.

Und selbst im glücklichen Fall kann er von den Tantiemen nicht leben. Es sind im Schnitt für 10 Aufführungen rund 900 Euro bei einer Produktion im Studio oder 6000 Euro, wenn er es ins große Haus schafft; minus Steuern und Verlagsanteil.

Davon kann man nicht leben, dafür muss man zu schnell schreiben, was zu schmalen Texten mit kleiner Besetzung führt. Zeit zum Entwickeln größerer Zusammenhänge gibt es nicht – während das Fernsehen ein festes Honorar zwischen 20 000 und 40 000 Euro zahlt. Nur konsequent, dass der Autor oder die Autorin den Auftraggeber wechselt. Es ist zudem einfacher, Bilder beredt zu machen, ein Schlauchboot auf dem Mittelmeer spricht für sich selbst. Es ist unendlich viel schwieriger, mit Worten Ähnliches auf dem Theater zu imaginieren.

Es ist so, als würde BMW die Entwicklungsabteilung schließen, weil der Laden ja läuft, und darauf vertrauen, dass die kleineren Werkstätten im Lande den Karren schon vorwärts treiben. So verhalten sich mittlerweile die Theater, wenn es um Autoren geht.

Die Legende will wissen, dass Max Reinhardt, legendärer (Privat-)Theaterleiter, schon in den zwanziger Jahren bemerkte, dass die Verhältnisse nicht so gut waren und zusätzlich zwei Dramaturgen engagierte: Zuckmayer und Brecht. Letzterer befragt, wie das so gewesen sei, meinte, das wisse er nicht. Er sei ja nie hingegangen. Was Reinhardt konterte: Dazu habe ich ihn auch nicht engagiert.

Oliver Reese, designierter Intendant des Berliner Ensembles, will, als Alternative zum globalen Vermarktungskonzept Chris Dercons für die Volksbühne, das Haus zu einem Autorentheater machen. Ein Hoffnungsschimmer?

Peter Stoltzenberg, geboren 1932, war Chefdramaturg an der Freien Volksbühne Berlin und Intendant in Heidelberg und Bremen. Er ist Gastprofessor der Schauspielschule „Ernst Busch“.

Zur Startseite