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Kultur: Essen gefährdet Ihre Gesundheit

Gutes Bio, böse Chemie? Wie Ehec, die unsichtbare Gefahr, unser Verhältnis zu den Lebensmitteln erschüttert

Neulich im Supermarkt die Bio-Zitronen. Vielleicht ist Bio ja doch nicht so gut, denkt man auf einmal. Mehr Natur dran, mehr Dreck, mehr Keime. Die Krebsgefahr aufgrund von natürlichen Chemikalien ist zehntausend Mal höher als die aufgrund von Pestiziden, steht in der Zeitung. Was heißt überhaupt noch gesunde Ernährung? Die harmlose Gurke, der freundliche Blattsalat, sie stehen unter Ehec-Verdacht. Kommt nach dem Rinderwahn, der Schweinepest und der Vogelgrippe nun das Mördergemüse? Und als nächstes ist dann das Obst dran?

Die Gurke des Tages, haben wir gelacht: 90 Prozent Wasser und auch sonst nichts in der Birne, so eine Gurke ist auch nur ein Mensch. Aber man schaut immer noch nach, wo sie denn herkommt. Lieber eine staatenlose Gurke als eine aus Spanien? Noch lieber gar keine; vor Rohkost wird weiter gewarnt. Kann man Tomatenmark noch bedenkenlos essen? Ketchup? Wohl dem, der einen Gemüsegarten sein eigen nennt – oder wenigstens eine Öko-Kiste vom Bauern des eigenen Vertrauens.

Essen, jedenfalls in unseren Breitengraden, macht nicht nur satt. Essen ist Genuss, Sinneslust, Luxus und süße Sünde, Lifestyle und Seelentröster, Ideologie und Religion, identitäts- und gemeinschaftsstiftend. Das kulinarische Kino der Berlinale wird beim Publikum immer beliebter, Slow Food, Mood Food (neudeutsch für Frustessen), Comfort Food – alles en vogue. Essen ist Heimat, titelte kürzlich „Die Zeit“. Also Schluss mit den Weltreisen von Obst und Gemüse im globalisierten Handelsverkehr. Beelitzer Spargel, Honig aus dem Hofladen, Kirschen aus Nachbars Garten: saisonale, einheimische Erzeugnisse frisch auf den Tisch werden immer beliebter. Die Re-Regionalisierung der Ernährung ist das Gebot der Stunde. Essen ist übrigens auch Weltkulturerbe. Ende 2010 nahm die Unesco die französische Gourmetküche in ihre Liste auf. Dass Essen auch lebensgefährlich sein kann, wissen wir wieder, seit Ehec grassiert.

Ständig machen sie Schlagzeilen, die bösen Bakterien und anderen giftigen Sachen, die wir uns täglich einverleiben. Erst im Januar war Dioxin im Ei und in der Hähnchengrillpfanne. Die Bilder von in Massen getöteten BSE-Rindern sind in grausiger Erinnerung, die Angst vor der Vogelgrippe steckt noch in den Knochen. Man entziffert das Kleingedruckte, hält sich strikt an Verfallsdaten, rätselt über den Prüfnummernstempel auf dem Ei, wäscht sich immer öfter die Hände und kommt sich vor wie im Sommer 1986, nach Tschernobyl.

Damals gab’s im Bioladen nur noch Schwarzwurzeln zu kaufen, die stammten garantiert aus der Zeit vor dem GAU. Der Siegeszug von Bio nahm da seinen Anfang. Bio bedeutete Reinheit, die Öko-Bauern züchten und prüfen wenigstens verlässlich, dachten viele. Der Mensch vergiftet die Umwelt, also zurück zu den Wurzeln. Und ausgerechnet jetzt, wo Bio beim Discounter angekommen ist und immer mehr Fleischesser obendrein zum Vegetarismus bekehrt sind, sollen die Erreger plötzlich im Salat stecken.

Misstrauen allüberall: Die Unschuld beim Essen ist dahin. Erst kommt das Fressen, dann die Moral? Die Zeiten sind vorbei. Wer die Gabel hebt, bezieht schon Stellung, sagt Jonathan Safran Foer, und: „Geschmack ist unser barbarischster Sinn.“ Die Nahrungsmittelindustrie nennt er das größte wissenschaftliche Experiment seit Beginn der Menschheit. Mit Foers Bestseller „Tiere essen“ und Karen Duves „Anständig essen“ wurde der Konsument gerade erst gründlich sensibilisiert und politisiert. Mit Ehec ist das Thema nun zusätzlich skandalisiert.

Nicht nur das Gammelfleisch, die industrielle Massenproduktion samt gravierenden Erderwärmungsfolgen und das Leerfischen der Weltmeere stehen am Pranger, sondern auch das bislang unverdächtige, artgerecht angebaute Gemüse. Der Spaß am Essen, an dieser neben dem Sex bald letzten garantiert analogen Tätigkeit im digitalisierten Zeitalter, er ist schon wieder verdorben. Womöglich steckt in der Natur selbst das Gift. Oder sind es doch die Vertriebswege, Zusätze, Zwischenhändler, Zulieferer? Schlamperei im Lübecker Restaurant, Gedrängel beim Hamburger Hafengeburtstag? Die große allgemeine Verunsicherung verdirbt allen den Appetit, sogar der Generation Gemüse.

Die Verdächtigung der Gurke markiert einen Paradigmenwechsel. Kaum hat sich der Proteststurm gegen die Legebatterien und Massentierhaltung ein wenig gelegt, kaum ist Bio und sogar der Vegetarier Mainstream geworden, ist plötzlich das Unschuldige das Unheimliche. Der Feind steckt womöglich sogar in der braven Tomate. Nach dem Krieg der Weltanschauungen, nach dem erbitterten Disput zwischen Allesfressern und Veganern sehen sich die Kontrahenten der gleichen rätselhaften Gefahr ausgesetzt. Ob Tierschützer oder Steak-Fan, alle wähnen sich von Körperfressern terrorisiert.

Verkeimt, verseucht, vergiftet. An unsichtbare Bedrohungen hat die Zivilisation sich gewöhnt: verstrahlte polnische Pilze, Radioaktivität im FischstäbchenFisch, Hormone im Trinkwasser, Salmonellen im Eigelb, Pestizide auf dem Obstteller, Formaldehyd im Teppich, Asbest in der Wand, Viren im Mail-Account. Eine Perversion des Kapitalismus? Man will sozialverträglich billiges Essen in großen Mengen – aber ohne Chemie in den Lebensmitteln ist ein lebenswertes Leben für alle nicht zu haben. Das wissen wir längst, es ist auch keine Perversion, höchstens Selbstbetrug – und ein Dilemma. Stallmist oder Kunstdünger, merken wir jetzt, das ist auch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Was man nicht sieht, macht einem Angst, zumal im Computerzeitalter jedes Kind weiß, welch manifeste Folgen selbst das Virtuelle haben kann. Sind Strahlen, Keime, Viren die Gespenster der Gegenwart? Unsinn: Der schwarze Tod im Mittelalter, Typhus, Tuberkulose und die anderen großen Seuchen der Vergangenheit haben die Menschheit genauso klammheimlich heimgesucht, über die Luft oder verunreinigtes Wasser. Ein einziges winziges Mutterkorn in Tonnen von Roggen hat einst ganze Landstriche ausgerottet, ganze Dörfer in den Wahnsinn getrieben – die Bilder von Hieronymus Bosch künden davon.

Unsereins denkt, das ist lange vorbei, wir haben so was im Griff. Und es stimmt ja sogar. Vor nicht mal hundert Jahren starben an der Spanischen Grippe weltweit mindestens 25 Millionen Menschen. Das jüngste Nachfolge-H1N1-Virus, vulgo: die Schweinegrippe, forderte 18 000 Opfer. Die Pandemien von heute sind ein Klacks im Vergleich zu dem, was die Menschheit früher dezimierte. Gegen die meisten Infektionen helfen Medikamente, ein ungeheurer Fortschritt.

Trotzdem werden wir Gevatter Tod nie besiegen, nicht mit noch so viel Veterinärmedizinern, Mikrobiologen, Ernährungswissenschaftlern, Lebensmittelaufsichtsbehörden und Robert-Koch-Instituten. Wir kontrollieren, homogenisieren, desinfizieren, halten uns an Hygienevorschriften, aber sicher sind wir nie. Ehec erinnert daran, dass sich die Natur und das, was wir aus ihr gemacht haben, immer ein Stück weit der Kontrolle entzieht. Woher zum Teufel kommt der Erreger, was ist das für ein unbekannter Bakterienstamm? Es gibt einen unberechenbaren Rest. Der Mensch kultiviert die Natur, auf dass sie ihn ernähre – und sie gibt ihm täglich neue Rätsel auf. Das stachelt nicht nur den Forschergeist an, es ist auch ein Grund zur Demut.

Essen ist Schlaraffenland. Das Märchen vom Tischleindeckdich stammt aus Hungersnotzeiten. Für die satte Industriegesellschaft wird der Traum vom sauberen Wasser, von glücklichen Kühen, vom gesunden, naturbelassenen Apfel zur letzten Utopie. 1973, kurz nachdem der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht hatte, kam der ScienceFiction-Film „Soylent Green“ ins Kino, einer der ersten Öko-Thriller. New York, im Jahr 2022: Die Stadt ist überbevölkert, die Menschen ernähren sich von grünen Keksen, die ein grausiges Geheimnis bergen. Ein Glas Marmelade kostet ein Vermögen, nur die Reichen können sich noch echte Lebensmittel leisten. Die Alten lassen sich in Sterbekliniken einschläfern, zu Filmbildern von blühenden Feldern, äsenden Rehen, sprudelnden Bergbächen und Beethovens Pastorale.

In einer Szene besorgt der Held, ein von Charlton Heston gespielter Cop, für seinen greisen Kollegen Zutaten für ein richtiges Essen. Ein Stück Rindfleisch, eine Zwiebel, Äpfel. Zu den Klängen von Mozarts Kegelstatt-Trio verzehren die beiden grüne Salatblätter. Sie sind der Inbegriff des Glücks, lange nach der Vertreibung aus dem Paradies.

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