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Nachdenklich. Die Sängerin und Komponistin Etta Scollo.

© Francesco Francaviglia

Etta Scollo im Radialsystem: Wiegenlied der Toten

Eine europäische Tragödie: Die sizilianische Komponistin und Sängerin Etta Scollo erinnert mit ihrem Oratorium „La Catastròfa“ an das Grubenunglück von Marcinelle.

Manchmal glaubt man, die Weltgeschichte bestehe nur aus einer Kette von Tragödien. Die digitalen Medien haben das Gefühl der Ohnmacht noch einmal verstärkt. Ist Empathie eine begrenzte Ressource, wie Trinkwasser? Wie viele Fatalitäten sind nie wirklich ans Licht der Öffentlichkeit gelangt oder vergessen?

Im August 1956 erstickten in der belgischen Grube Bois de Cazier in der Kohlenstadt Marcinelle 262 Bergleute. In tausend Meter Tiefe war ein Brand ausgebrochen. Die Sicherheitsstandards waren gefährlich schlecht und auch nicht eingehalten. Ingenieure sahen darüber hinweg. Ein Starkstromkabel in der Grube führte an undichten Ölleitungen vorbei, dazu kamen schlechte Organisation und tödliche Missverständnisse. Die Mehrzahl der Opfer waren Italiener. Sie waren erst kurz zuvor in den Norden gekommen.

Im Radialsystem hat Etta Scollo „La Catastròfa – Oratorium für Marcinelle“ aufgeführt. In einer Zeit, da Europa auseinanderzubrechen droht, da die südlichen Nationen unter der Brüsseler und Berliner Austeritätspolitik leiden, erinnert die in Berlin lebende sizilianische Komponistin und Sängerin an ein europäisches Unglück. Sie zeigt, dass diesem Europa der Märkte das menschliche Gefühl fehlt.

Mehr Bericht als Anklage

Für das Unbegreifliche wählt Etta Scollo eine einfache Form. Die Texte basieren auf einem Buch des italienischen Journalisten Paolo Di Stefano, bedeutungsschwer hier vorgetragen von Udo Samel. Begleitet von Susanne Paul (Violoncello), Cathrin Pfeifer (Akkordeon) und den neun Sängerinnen und Sängern des Coro Acanto, lässt Etta Scollo sich in die Vergangenheit hinabsinken. Ihr Vortrag ist im antiken Sinn mehr Bericht als Anklage. Ihre voll tönende Stimme, die sonst einen Saal zum Tanzen und Lachen bringen kann, klingt weich und still, manchmal am Rand des Verstummens. Wie kann es sein, dass einem über 60 Jahre nach dem Grubenunglück die Tränen in die Augen steigen?

Die szenischen Mittel bleiben spärlich. Einige Fotos, der übersetzte Text auf einer Leinwand. Im Grunde braucht man nicht einmal das. Das Schreckliche, Ergreifende, der unvorstellbare Schmerz der Angehörigen liegt in Etta Scollos Gesang. Es sind Wiegenlieder für tote Brüder, Väter, Freunde. Es ist eine politische Geschichte, weil sofort klar wird, dass in Marcinelle Arbeiter in einem heruntergekommenen Bergwerk starben – wie in China, immer wieder, und an anderen Orten, die kaum interessieren.

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