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Kultur: "Etwas verbindet uns"

TAGESSPIEGEL: Frau Deutschkron, Sie haben den 9.November 1938, die sogenannte Reichskristallnacht, in Berlin als 16jähriges Mädchen erlebt.

TAGESSPIEGEL: Frau Deutschkron, Sie haben den 9.November 1938, die sogenannte Reichskristallnacht, in Berlin als 16jähriges Mädchen erlebt.Was ist die stärkste Erinnerung an diesen Tag?

DEUTSCHKRON: Da gab es so viele starke Erinnerungen.Die erste war natürlich die Gewalt, die sich auf der Straße zeigte.Wie Leute Fensterscheiben einschlugen und die Synagogen anzündeten, und andere und die Feuerwehr standen daneben und durften nicht löschen.Vorher hat es solche Gewalt noch nicht gegeben.Es war ein staatlich organisiertes Progrom.Ein sehr starker Eindruck war auch, als die Gestapo kam, um meinen Vater abzuholen.Ich hatte natürlich eine fürchterliche Angst.Mein Vater war, Gott sei Dank, nicht zuhause.Das waren die schlimmsten Eindrücke dieses Tages.Dieser Tag war der Wendepunkt für die deutschen Juden, denen klar wurde: Wir müssen um unser Leben fürchten in diesem Land.

TAGESSPIEGEL: Also hat erst die Reichspogromnacht vielen Juden die Augen geöffnet für den verbrecherischen Charakter des NS-Staates?

DEUTSCHKRON: Das Schlimmste war an diesem 9.November, daß er alles durchbrach, was an moralischen Barrieren noch da war.Die Deutschen erkannten: Man kann auf diese Menschen einschlagen, ohne daß einem etwas passiert.Wir waren plötzlich Freiwild.

PROCHOROWSKAJA: Aber auch vorher wurden doch schon jüdische Läden überfallen, viele Juden hatten bereits ihre Arbeit verloren.Waren ihre Eltern und die anderen Juden damals blind - oder wollten sie es nicht wahr haben?

DEUTSCHKRON: Man konnte sich einfach nicht vorstellen, was noch passieren würde.Die Verfolgung begann natürlich schon viel früher.Mein Vater, ein Lehrer, wurde 1933 aus dem Staatsdienst rausgeschmissen.Nicht weil er Jude war, sondern weil er sozialdemokratischer Funktionär war.Massiv begannen diese Kündigungen aber erst um 1936.Die jungen Leute verließen das Land, weil sie keine Chance für eine Ausbildung hatten.Aber die anderen dachten, daß sie irgendwie zurechtkommen.Auswandern ist ja nicht so einfach.Sie müßten davon etwas wissen.

PROCHOROWSKAJA: Wir hatten damals die Gedanken: "Wo gehen wir hin? Wir haben da nichts.Es ist ein fremdes Land, wo wir die Leute und die Sprache nicht kennen." Und dann sagt man sich, daß man sich irgendwie arrangieren wird.Mein Opa hat damals gesagt: "Nach Deutschland gehe ich niemals, zu den Faschisten!" Jetzt sitzt er in Israel und will hierher und bereut es.

DEUTSCHKRON: Aber 1938 wurde es auch schon wahnsinnig schwer auszuwandern.Als die Juden endlich erkannten, daß es notwendig ist, hier wegzugehen, da nahm sie erst einmal kaum ein Land auf.

TAGESSPIEGEL: Wie haben sich denn die "arischen" Nachbarn am 9.November und in den Tagen danach verhalten?

DEUTSCHKRON: Wir hatten bewußt keinen Kontakt zu denen.Wir wohnten in einem Haus in der Uhlandstraße.Unter uns wohnte ein altes Ehepaar, das uns einmal denunziert hat.Sie behaupteten, mein Vater schriebe Flugblätter.Da kam die Gestapo und machte eine Haussuchung.Aber die einfachen Leute haben einem oft geholfen.Vor allem die Frauen.Manche Lebensmittelhändler haben uns was zugesteckt.

TAGESSPIEGEL: Sie können also die These von Daniel Goldhagen, alle Deutschen seien Hitlers "willige Vollstrecker" gewesen, nicht unterschreiben?

DEUTSCHKRON: Die These halte ich für blödsinnig.Und ich kann das wirklich beurteilen.Ich bin von Deutschen gerettet worden, und nicht nur ich.Daß in Berlin nur etwa 1400 von den 5000 bis 10 000 illegal hier lebenden Juden durchgekommen sind, liegt auch daran, daß die Zeit so lange dauerte: vom 1.März 1943 - da verkündete Goebbels, Berlin sei "judenfrei" - bis zum 8.Mai 1945.Ich will nicht sagen, daß alle Deutschen für die Juden waren.Aber aktiven Antisemitismus gab es nur bei einem geringen Teil der Bevölkerung.Und es gab viele Mitläufer.Das Verbrechen war das Wegschauen.

PROCHOROWSKAJA: Stehen die Häuser noch, in denen Sie gewohnt haben?

DEUTSCHKRON: Eigentlich kam ich ja aus dem Prenzlauer Berg.Da mußten wir 1933 wegziehen.Aber die Haus Hufelandstraße 9 - heute 18 - steht noch und das Haus in der Uhlandstraße auch noch.

PROCHOROWSKAJA: Gehen sie manchmal hin, um zu sehen, wer da wohnt?

DEUTSCHKRON: Nein, das kann ich nicht.

TAGESSPIEGEL: Frau Prochorowskaja, wann haben Sie zum ersten Mal von der Reichspogromnacht gehört?

PROCHOROWSKAJA: Das kann ich nicht sagen.Ich habe eher von den russichen Pogromen gehört.Ich glaube, zum ersten Mal habe ich davon in Deutschland gehört.Die Reichskristallnacht hat für mich sicher nicht so eine große Bedeutung wie für Frau Deutschkron, die das Dritte Reich hier erlebt hat.Aber manchmal zucke ich innerlich zusammen, wenn ich zum Beispiel etwas sehe, wo Rauch herauskommt.Vielleicht kommt das von den Geschichten, die meine Urgroßeltern mir erzählt haben.Oder weil ich sehr viele Bücher darüber gelesen habe.Oder weil es im Blut liegt - ich weiß es nicht.

TAGESSPIEGEL: Ist in Ihrer Familie viel über den Holocaust gesprochen worden?

PROCHOROWSKAJA: Es wurde darüber gesprochen, obwohl meine Familie kaum vom Holocaust betroffen war.Meine Großmutter war im Krieg noch sehr jung - 1941 war sie 12 Jahre alt, und der Urgroßvater war im Kriegsdienst.Die Familie wurde rechtzeitig evakuiert: von der Ukraine nach Usbekistan.

DEUTSCHKRON: Die Juden oder alle?

PROCHOROWSKAJA: Viele aus der Ukraine, egal ob Juden oder Russen.Antisemitismus gab es nur zu Friedenszeiten, und zwar reichlich.Meine Cousine wurde mit "Drecksjüdin" beleidigt.

TAGESSPIEGEL: Ist Ihre Familie aus Angst vor Antisemitismus weggegangen?

PROCHOROWSKAJA: Das kann man so nicht sagen.Das ist eine pauschale Angst.Es beginnt mit einer Person, die sich zu fürchten beginnt.Und dann zieht die ganze Gemeinde weg.Aber ich glaube, daß bei jedem Juden der Gedanke im Nacken sitzt, daß es irgendwann zu einer Auswanderung kommen kann.

DEUTSCHKRON: In Rußland?

PROCHOROWSKAJA: In der ganzen Welt.Ich würde zwar nicht behaupten, daß wir in Deutschland diskriminiert werden, und daß wir auswandern müssen.Aber der Gedanke ist da, daß es sein könnte.

DEUTSCHKRON: Bei mir ist das auch im Hinterkopf.Ich bin froh, daß ich meine Wohnung in Tel Aviv habe, und hin und her pendeln kann.Ich hatte ja auch schlechte Erfahrungen hier und bin bedroht worden.Das war so 1992 oder 1993, als hier wieder der Rechtsradikalismus aufkam.Ich bekam furchtbare Telefonanrufe.Und richtige Nazipost im Stil des "Stürmers".Damals hat der Tagesspiegel darüber geschrieben.Und daraufhin wurde ich überschüttet mit Briefen, die Empörung und Beschämung ausdrückten.Das schönste waren Kinderbriefe: "Wenn sie mal Hilfe brauchen, dann kommen sie zu uns." Das hat mich bestärkt, zu bleiben.Den Nazis darf man nicht weichen.

TAGESSPIEGEL: Ignatz Bubis hat gerade gesagt, daß jeder dritte Deutsche ein Antisemit sei.Übertreibt er?

DEUTSCHKRON: Woher hat er das? Ich bin von wunderbaren Menschen umgeben.Verrückte wird es immer geben.Und ich fürchte, es wird auch in diesem Land immer zwei oder drei Prozent Nazis geben.

PROCHOROWSKAJA: Ich glaube, Bubis übertreibt.Ich habe hier noch keinen Antisemitismus erlebt.Ich lebe noch nicht so lange hier wie Frau Deutschkron, aber ich kenne viele Leute - und ein Antisemit ist nicht drunter.

TAGESSPIEGEL: Was ist Ihre stärkste Identität: Jüdin oder Deutsche?

DEUTSCHKRON: Jüdin bin ich überhaupt nicht.Ich habe keine Religion - das kommt aus meinem Elternhaus.Ich glaube eben einfach an nichts.Ich finde, nach Auschwitz kann man nicht mehr glauben.

TAGESSPIEGEL: Wie geht Ihnen das, Frau Prochorowskaja?

PROCHOROWSKAJA: Mir geht es genauso.Ich fühle mich nicht als Jüdin, sondern als Mitbürgerin der Welt.Ich glaube zwar an Gott, aber ich gehe in keine Synagoge, weil ich denke, man kann auch in der S-Bahn beten.In unserem Paß gab es eine Spalte, da stand "Nationalität: Jude".Das war wie der gelbe Stern.Wir wurden zu Juden gemacht.

TAGESSPIEGEL: Woran macht ein Jude seine Identität fest? Ist das eine Frage der Religion oder der Volkszugehörigkeit?

DEUTSCHKRON: Ich fühle mich auch als Israeli, zugehörig zu diesem Volk der Leidenden, der Verfolgten.Aber das Problem meiner Generation ist doch eigentlich, daß wir entwurzelt worden sind.Es gibt hier in Berlin sehr viele Orte, die ich meide, weil dort schreckliche Dinge passiert sind.Aber eigentlich bin ich doch in gewisser Hinsicht Berlinerin - Berlinerisch ist die einzige Sprache, die ich richtig kann.Es gibt vieles in Israel, was ich liebe, doch Wurzeln habe ich dort nicht geschlagen.

PROCHOROWSKAJA: Auch ich fühle mich als Berlinerin.Ich war 14 Jahre alt, als wir hierher kamen.Sicher habe ich in Rußland meine Heimat.Das habe ich noch in meinem Gedächtnis.Aber im Ausland denke ich mir immer: "Elina, du bist eine Berlinerin." Ich sage niemandem, daß ich eine Jüdin bin.

TAGESSPIEGEL: Aus Angst vor den Reaktionen?

PROCHOROWSKAJA: Nein, sondern weil ich Atheistin bin.

DEUTSCHKRON: Sie gehen ja auch nicht hin und sagen: "Ich bin Christ." Warum soll sie sagen, daß sie Jüdin ist? Ich versteh das nicht und das regt mich auf.

PROCHOROWSKAJA: Andererseits denke ich auch, daß "jüdisch" etwas bedeutet.Nicht umsonst haben wir etwas Gemeinsames.Es hat ja nicht nur mit der Religion zu tun.Die Juden haben aber ihre eigen Küche, ihre eigen Musik, Erziehung.Unsere Familie hat sich immer von anderen russischen Familien unterschieden.

DEUTSCHKRON: Das sehe ich anders.Vielleicht ist die Verfolgung das, was alle Juden gemeinsam haben.Aber sonst sehe ich keine gemeinsame Tradition.Das kann ich nicht akzeptieren.Das kam erst durch die Nazizeit, daß man sich als Jude fühlt.

TAGESSPIEGEL: Was werden Sie am 9.November machen?

DEUTSCHKRON: Ich werde in Marzahn mit Schauspielern vom Gripstheater sein.Ich lese aus meinen Büchern, und wir fügen Lieder vom Gripstheater ein.Am Vormittag ist ja die große Gedenkveranstaltung.Aber da gehe ich nicht hin.Das halte ich nicht aus.Diese Tage sind schlimm für mich.

PROCHOROWSKAJA: Ich habe erstmal ein Seminar mit klinischen Bezügen.Ich treffe mich mit meiner Familie, und man wird sicher auch darüber sprechen: Ob man auswandern soll, oder anderes.Aber das steht für uns eigentlich nicht an.

RAOUL FISCHER, CHRISTIAN SCHRÖDER

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